Das Wie ist mit einem Blick auf unsere bisherigen, meist „unterirdischen“ Publikationen1 leicht erklärt. Im Alpen-Adria-Raum gilt seit Jahrzehnten die wirtschaftliche Gleichung: Bergbau = Lost Place. Das hat generell unser Interesse an Orten geweckt, denen man attestiert, zwar eine Vergangenheit, aber keine Zukunft zu haben.
Und das Warum? Natürlich spielt der raue Charme der Vergänglichkeit eine Rolle, optisch vor allem. Inhaltlich wollen wir aber nichts schönreden, nichts weichzeichnen, nichts lackieren: Es geht in diesem Buch um Verlassenes, das unserer Meinung nach nicht vergessen werden sollte.
Der größte Feind ist dabei nicht die Zeit, sondern der Mensch. Die Zerstörungswütigen mit krimineller Energie meinen wir damit ebenso wie die Nichtstuer unter Investoren, Spekulanten, Behörden und Politikern. Das gilt für jedes Land, das in diesem Buch vorkommt.
Zum Glück gibt es aber auch die anderen: Viele Vereine und Privatpersonen versuchen, verlassenen Orten ihrer näheren Umgebung neues Leben einzuhauchen, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Diesen engagierten Menschen ist unser Buch als Dankeschön und Unterstützung gewidmet, indem wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, einladen, die Augen dafür zu öffnen.
Begleiten Sie uns auf spannende und manchmal unterhaltsame Expeditionen durch einen historisch vernetzten Raum, den man nicht oft genug neu entdecken kann. Folgen Sie unseren Abenteuern, wo dies gefahrlos möglich ist. Und vor allem: Nehmen Sie sich die Zeit, bevor manche vergessenen Orte für immer verschwinden.
Georg Lux, Autor
Helmuth Weichselbraun, Fotograf
PS: Mehr über das „Making of“ dieses Buchs sowie über unsere aktuellen und zukünftigen Projekte erfahren Sie im Internet. Unter www.facebook.com/geheimnisvolle.unterwelt berichten wir – mitunter live – von verschiedenen Lost Places. Zusätzliche Hintergrundinformationen und Tipps finden Sie in unserem Blog unter www.erlebnis.net/unterirdisch.
Ein Kunstobjekt? Nein. Folge einer Katastrophe: Stecker in einer ausgebrannten Diskothek bei Bibione
WICHTIGE HINWEISE
Bitte unbedingt beachten:
Abgesperrt bedeutet: abgesperrt. Wer sich trotzdem zu einem Gelände oder Gebäude Zutritt verschafft, gerät mit dem Gesetz in Konflikt.
Warnhinweise befolgen. Die Schilder hängen nicht zur Dekoration da.
Immer in Begleitung unterwegs sein.
Respektieren Sie fremdes Eigentum. Zerstören/beschädigen Sie nichts.
„Souvenirs“ sind tabu. Auch wenn ein Gelände offen steht, gilt das nicht als Einladung zum Diebstahl, der einen strafrechtlichen Tatbestand darstellt.
Das Vorhandensein von Decke und Fußboden in einem Raum heißt nicht, dass diese auch „halten“.
Gutes (vor allem festes) Schuhwerk, Taschenlampe und Helm gehören zur Standardausrüstung.
Sämtliche Öffnungszeiten und Adressen der im Buch angeführten Einrichtungen wurden gründlich recherchiert, trotzdem sind die Angaben ohne Gewähr. Ein zusätzlicher Blick ins Internet oder ein Anruf können letzte Gewissheit bringen, damit ein Ausflug gut gelingt. Die Wege wurden von uns begangen und nach bestem Wissen und Gewissen beschrieben. Für deren Benützung im Zusammenhang mit diesem Buch kann dennoch keine Haftung übernommen werden.
Grenzübergang an der alten Loiblstraße. Die Obelisken wurden 1728 errichtet.
TARVISIO CENTRALE
ENDSTATION
Für Tarvisio Centrale ist der Zug abgefahren. der Grenzbahnhof ohne Anschluss ist seit der Jahrtausendwende dem Verfall preisgegeben. Wo einst Luxuszüge haltgemacht haben, kommen heute nur mehr Radfahrer vorbei.
Wenn es stimmt, dass die Kaffeemaschine das Allerheiligste einer italienischen Bar ist, dann hat man diesen Ort entweiht. Das Gerät der Marke „La San Marco“ wurde brutal aufgerissen und regelrecht ausgeweidet. Ein einsames Kabel baumelt aus seinem verchromten Bauch. Wie viele schnelle „caffè“ haben Reisende und Bahnmitarbeiter hier getrunken? Insgesamt werden es wohl „ein paar“ Hektoliter gewesen sein, bis am 26. November 2000 endgültig Sperrstunde war. Nicht nur für die Bar in der Halle, sondern für den gesamten Grenzbahnhof Tarvisio Centrale. Er wurde geschlossen, weil die Züge nun auf einer neuen Trasse durchs Kanaltal rollen.
Schienen und Schwellen der alten Strecke sind verschwunden. „Rückgebaut“, wie man es im österreichischen Amtsdeutsch nennen würde. Der Bahnhof ist, weil deutlich sperriger, geblieben. Und mit ihm ein Teil des Inventars. Was in der Bilanz der italienischen Staatsbahn längst abgeschrieben war, ließ man beim Auszug anno 2000 einfach stehen und liegen. Eine nichts besonders brillante Idee, wie wir eineinhalb Jahrzehnte danach auf den ersten Blick feststellen: Unbekannte Besucher haben eine Spur der Verwüstung durch das verlassene Gebäude gezogen. Keine Fensterscheibe, keine Glastür ist mehr heil. Den Boden bedecken Zollpapiere, die aus Aktenordnern und Kanzleikästen gefetzt wurden. Ein Kopierer liegt – ähnlich geplündert wie die Kaffeemaschine – auf dem ehemaligen Bahnsteig 1.
Noch verhältnismäßig „fit“: der Fernschreiber im Postamt
Manchmal war das Material allerdings stärker als die Aggression. Der Tresor im Bahnhofspostamt hat sich keinen Millimeter bewegt, das obere Fach ist sogar noch verschlossen. Auch der Fernschreiber macht, obwohl der Fußboden des Schalterraums nicht sein Stammplatz gewesen sein dürfte, einen beinahe unversehrten Eindruck. Und der sicherste Ort des Areals hat sich ebenfalls bewährt: Die Tür zur Arrestzelle im alten Wachzimmer der Bahnhofspolizei lässt sich keinen Millimeter öffnen. Durch das vergitterte Fenster sehen wir, dass der Raum leer ist – ein Glück für den letzten Insassen, wenigstens ihn hat man mitgenommen. Im Wachzimmer selbst waren Scherzbolde oder vielleicht sogar ehemalige Einsitzende mit Schadenfreude am Werk. Ausgerechnet auf dem vormals polizeilichen Schreibtisch steht nun eine leere Flasche Wein. Ein „Doppler“ – es gab offenbar etwas zum Feiern.
Früher geschah das innerhalb dieser Mauern mit mehr Stil. Dafür bürgte schon der ursprüngliche Name der vorbeiführenden Strecke. Es war die Kronprinz-Rudolf-Bahn, kurz Rudolfsbahn. Die zunächst privat betriebene und später verstaatlichte Linie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts errichtet. Sie verband die Kaiserin-Elisabeth-Bahn (später Westbahn) über Selzthal, St. Veit, Feldkirchen und Villach mit Laibach ebenso wie mit dem damaligen Königreich Italien. Dem zu diesem Zeitpunkt noch österreichischen Tarvis kam als Kreuzung eine Schlüsselrolle zu. Hier ging es entweder links nach Laibach weiter oder geradeaus über die bis heute so genannte Pontebbana nach Udine. Dementsprechend groß war der 1873 eröffnete Bahnhof inklusive Hotel und