So saßen wir zu zehnt 90 Minuten über unseren geöffneten Heften und schrieben kein Wort. Ergebnis: Bei der Rückgabe der Klausuren erhielten wir eine Sechs, 0 Punkte, ein Ungenügend, jeweils mit der schriftlichen Begründung von Herrn G. versehen, die Aufgaben der Klausur seien nicht angegangen worden.
An diesem Beispiel werden verschiedene Themen deutlich. Zum einen habe ich bis heute hin nicht verstanden, warum ein Lehrer, in diesem Beispiel Herr G., in der Vorbereitung Themen für eine anstehende Klausur ausschließt, um genau diese dann in der Klausur als Aufgaben zu stellen.
Dies war damals und ist heute nicht nachvollziehbar. Ist dies pädagogisch sinnvoll oder gar wertvoll? Was sollte da abgeprüft werden? Die Leidensfähigkeit, die Anpassungs- oder Widerstandsfähigkeit von 16-Jährigen?
Zum zweiten, und dies ist eine von damaliger wie von heutiger Sicht durchaus als sehr positiv zu beurteilende Beobachtung, haben wir uns über den Weg nonverbaler Kommunikation auf ein gemeinsames Vorgehen, Verweigerung, einigen können. Niemand ist ausgeschert.
Zum dritten, und dies ist in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam, haben wir uns miteinander solidarisch erklärt und offenen Widerstand gegen das von uns als ungerecht empfundene Vorgehen des Lehrers geleistet.
Wir hatten zwar alle eine Sechs erhalten, aber wir waren innerlich standhaft geblieben und wir hielten zusammen.
Und dies ist auch im Abstand von 40 Jahren immer noch der Punkt, an dem ich auf uns alle stolz bin. Wir haben uns nicht verbiegen lassen. Wir haben nicht das Beste aus der Situation gemacht in dem Sinne, daß wir irgendetwas auf die Fragen geantwortet hätten, um wenigstens auf eine 5, ein mangelhaft, statt eines ungenügend, zu kommen. Dies wäre auch möglich gewesen.
Herr B., Safti mit Spitznamen, war unser Klassenlehrer von der Quinta bis Obertertia. Er war aus damaliger und heutiger Sicht einer der strengsten und am stärksten autoritär auftretenden Lehrer, die ich jemals in der Schule kennengelernt habe.
Safti war die Verkörperung von Angstmacherei.
Ich erinnere mich gut an Situationen im Biologie-Unterricht, in denen wir das Lehrbuch von Diesterweg Das Tier, Band 1 durchnahmen.
Wir, die 11- und 12-jährigen Schülerinnen und Schüler, waren von der einen auf die andere Unterrichtsstunde angehalten, den Inhalt von ausgewählten Kapiteln dieses Lehrbuches zu lernen.
In der nächsten Stunde, und dies war nicht nur im Nachhinein eine erschreckende Beobachtung, saßen wir noch im dem Moment, in dem Safti sein Notenbuch zückte, um einen Schüler auszuwählen, der nach vorn kommen sollte, mit aufgeschlagenen Biologie-Büchern, hektisch das Wichtigste noch einmal überfliegend, in unseren Bankreihen.
Wenn Safti dann seinen Blick auf dieser, von ihm aufgeschlagenen Seite seines Lehrerkalenders, auf dieser Höhe, verweilen ließ, ohne weiter zu blättern, hatte er ein Opfer gefunden. Das wußten alle in der Klasse.
Derjenige, den es erwischt hatte, wurde nach vorn, vor die Klasse zitiert. Er wurde stehend abgefragt. Nach allen Regeln der Kunst.
Safti schien es Spaß zu bereiten, seine Schüler von einer in die andere für sie unangenehme Situation zu treiben.
Diejenigen, die versagten, und dies waren nicht wenige, wurden als abschreckende Beispiele dafür vorgeführt, wie wir es nicht machen sollten.
Niemand, ausnahmslos niemand von uns traute sich, in dieser Atmosphäre aufzubegehren, Widerstand zu leisten.
Die Situation, in der wir uns befanden, war beklemmend.
Wir hatten Angst vor Safti, vor der mit großer Wahrscheinlichkeit eintretenden Befürchtung, vor der Klasse und damit vor uns selbst bloß gestellt zu werden.
Wenn ich mich rückerinnere an diese Zeit, so fällt mir wieder ein, daß ich in dieser angstbesetzten Zeit von durchaus interessanten Inhalten kaum oder nichts gelernt hatte, was die nächste Unterrichtsstunde bei Safti überdauert hätte.
Vier lange Jahre mußten wir durchhalten, was schwierig war, da Safti uns in Erdkunde, Biologie und später zusätzlich in Chemie unterrichtete.
Dann verließ Safti die Schule. Endlich, darauf hatten wir nicht einmal zu hoffen gewagt. Er hatte sich an eine Schule in Süddeutschland versetzen lassen.
Die Liste der skurrilen, der befremdlichen, der abschreckenden Lehrer und Lehrerinnen ist fortsetzbar. Jede/r von uns wird dies kennen.
Auf der anderen Seite sind mir aber auch Lehrer begegnet, die uns Schülern/innen völlig anders entgegengetreten sind, die uns als Individuen, als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen haben, die in uns Heranwachsenden nicht nur Schüler, sondern Menschen gesehen haben, die uns nicht ausschließlich auf der Ebene des Intellekts, sondern auf der Ebene des sozialen Miteinanders anzusprechen suchten.
Trotz einzelner abschreckender Beispiele ließ sich in dieser Zeit, Anfang bis Mitte der 70er Jahre, eine sich fast unmerklich einschleichende Veränderung bis dahin anerkannter, nicht oder kaum hinterfragter Erziehungs- und Unterrichtsstile beobachten.
Die unnachgiebigen, streng autoritären Lehrer mit dem gewählten Credo und dem verinnerlichten Grundprinzip von Befehl und Gehorsam waren im Aussterben begriffen.
Es waren diejenigen, die während des Tausendjährigen Reiches, das lediglich zwölf Jahre sein Unwesen mit verbrecherischen Machenschaften hatte treiben können, geboren und durch die Jugendorganisationen der Nationalsozialisten geschleust wurden.
Diese Erklärung für die Präferenz eines stark autoritären, mitunter einzelne Schüler auch unterdrückenden Unterrichtsstils greift natürlich, so mag der berechtigte Einwand an dieser Stelle lauten, viel zu kurz, dennoch steckt für mich ein wahrer Kern darin.
Autorität ist nicht gleichzusetzen mit autoritär. Dies wurde mir bereits als Heranwachsender bewußt über eigene Erfahrungen mit Lehrerinnen und Lehrern an meiner Schule. Diese Einsicht wurde zudem genährt durch Gespräche mit einem weiteren Geistlichen, die ich gemeinsam mit Axel, einem meiner Sandkasten-Freunde, mit dem pensionierten Probst Röhl während eines Ferienaufenthaltes an der Nordsee, in St. Peter-Ording, führte.
Probst Röhl prägte den Ausspruch Keine Freiheit ohne Autorität, eine Aussage von wahrhaft tiefgründiger philosophischer Bedeutung, die uns heranwachsende Jugendliche über Wochen und Monate gedanklich beschäftigen sollte.
Die 68er Zeit, eine Phase des Aufbegehrens von Studenten und älteren Schülern gegen bestehende Autoritäten, gegen das sogenannte Establishment, gegen die unbewältigte nationalsozialistische Vergangenheit, gegen die Notstandsgesetzgebung, gegen Imperialismus und Vietnamkrieg, ging an dem kleinen Provinzgymnasium nicht spurlos vorbei.
Ich erinnere mich daran, daß 1970, in meinem zweiten Jahr in der weiterführenden Schule, in der Aula des Gymnasiums eine unangemeldete, damit zugleich ungenehmigte Kundgebung der Roten Zellen, einer damals in Flensburgs Hochschulen bestehenden, marxistisch ausgerichteten Studentengruppe, mit Polizei-Gewalt aufgelöst wurde.
Als elfjähriger Quintaner war ich damals nicht in der Lage gewesen, die Hintergründe dieses Szenarios, eines für dörfliche Verhältnisse riesengroßen, überdimensionalen Aufgebots an Polizei- und Ordnungskräften, zu verstehen.
Der damalige, sich als uneingeschränkte Autorität sehende, unnachgiebige Direktor Dr. P. löste die Protestversammlung auf und verwies die damaligen Unter- und Mittelstufen-Schüler der Aula.
Ein zweites Erlebnis, das mir als Heranwachsender aus diesen bewegten politischen Zeiten im Gedächtnis bleiben sollte, war die Abstimmung des Deutschen Bundestages über das konstruktive Mißtrauensvotum gegen den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt am 27. April 1972.
Die Opposition unter Führung ihres Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel wollte den amtierenden Kanzler Brandt, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1971, wegen der umstrittenen Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition, die im Zuge von Egon Bahrs Konzept Wandel durch Annäherung auf Versöhnung ausgerichtet