Mit dem Begriff Heimlicher Lehrplan, so Hilbert MEYER, würden „Mechanismen beschrieben, die im alltäglichen Schulbetrieb auf die Schüler einwirken und systematisch die hehren Zielsetzungen der Schulgesetze und Richtlinien unterlaufen“7.
Damit würden u. a. Themen verbunden wie die hierarchische Ordnung in der Schule mit Formen der Über- und Unterordnung der Schüler/innen, konformes und abweichendes Verhalten und deren Sanktionsmöglichkeiten, Themen wie leistungsbezogene Konkurrenz (kollektives Unterrichten, individuelles Zensieren), sprachliche Normierung sowie Maskierung (Vorgeben vermeintlichen Interesses am Unterricht versus Abschweifen in Gedanken)8.
Zurück zu schulischem Unterricht und potentiellen Lehrer-Vorbildern.
Während ich mich an die Grundschulzeit nur schemen- und bruchstückhaft erinnern kann, fallen mir hinsichtlich positiv und negativ wirkender Lehrerinnen und Lehrer im Gymnasium viele Beispiele ein.
Herr W., Deutschlehrer in den Klassen Sexta, Quinta und Quarta, ging in meiner ersten Unterrichtsstunde im Gymnasium, das war Mitte August 1969, durch die Bankreihen, zeigte mit dem Zeigefinder auf jeden einzelnen Schüler und fällt dann sein Urteil: Du schaffst das Abitur, Du nicht. Du schaffst das Abitur, Du nicht.
Woher Herr W. die Kenntnisse nahm, dies einschätzen zu können, bleibt bis heute ein ungelöstes Rätsel. Vielleicht war er im Besitz übersinnlicher Kräfte und konnte Hellsehen?
Wie dieses Beurteilen auf die Kinder wirkte, denen er die Fähigkeit absprach, Abitur machen zu können, bleibt ebenfalls bis heute unausgesprochen, läßt sich nur erahnen. Herr W., ein ausgebildeter Lehrer, hatte die Angewohnheit, morgens in den Unterrichtsraum zu kommen, die Schüler/innen standen zu der Zeit von ihren Stühlen auf, wenn der Lehrer den Raum betrat. Wir mußten uns ihm zuwenden und uns mit seiner Bewegung durch den Raum langsam um die eigene Achse drehen, wenn er ans Pult schritt, so daß wir ihm stets die Brustseite zuwenden konnten. Vorne eingetroffen, skandierte er laut: Guten Morgen, Sexta b, unser Part bestand darin zu antworten Gu-ten Mor-gen, Herr We-we-we. Danach durften wir uns setzen.
Viele Jahre später, als ich meinen Wehrdienst bei der Bundeswehr ableistete, ist mir diese Form der Begrüßung wiederbegegnet. Herr W. hatte die Art und Weise der gegenseitigen Begrüßung von Rekruten im Organisationsverbund von Kompanie oder Zug und Vorgesetzten aus der Bundeswehr im Verhältnis von eins zu eins auf seinen Unterricht übertragen.
In den drei Jahren Deutschunterricht haben wir neben den vielfältigen Erzählungen von Urlaubsfahrten mit dem VW-Bus, der am letzten Schultag vor den Ferien bereits gepackt zur Abfahrt bereit stand, die zehn Wortarten, Konjugieren und Deklinieren gelernt, viel mehr nicht.
Später begegneten mir andere Persönlichkeiten, die meine Schulkollegen und mich zu eher ungewöhnlichen Verhaltensweisen verleiteten. Wir waren keine Störenfriede, keine Randalierer, aber wir haben bisweilen in uns langweilendem Unterricht Käsekästchen oder Schiffe versenken gespielt, vor uns hin geträumt, geschlafen oder auch unsere aus heutiger Sicht im Bereich von Mobbing einzuordnenden Späße getrieben.
So erinnere mich gut an einen Mathematik- und Physiklehrer, Herrn S., der ein gutmütiger Mensch war, fachlich sehr beschlagen, aber er konnte keinen Kontakt zu uns Schülern/innen aufbauen.
Ich habe in seinem Unterricht nichts gelernt. Daran habe ich ablesen können, daß neben einem interessant gestalteten Unterrichtsthema auch die Art der Beziehung zwischen Lehrendem und Lernendem eine gewiß oftmals unterschätzte Bedeutung einnehmen kann, was die Lernbereitschaft, das aktive Mitarbeiten und den Unterrichtserfolg insgesamt ausmacht.
Herr S. war hörgeschädigt und trug ein Hörgerät, das er je nach vorhandenen Lärmquellen in der Umgebung auf die richtige Sensibilität einstellen mußte. Dies war für sich langweilende Schüler ein gefundenes Fressen. Was taten wir? Wir pfiffen beispielsweise aus den letzten Bankreihen hinter vorgehaltener Hand, in höheren oder auch tieferen Tonlagen, laut und leise, so daß Herr S. den überwiegenden Teil seiner Unterrichtszeit damit beschäftigt war, sein Hörgerät zu regulieren.
Heutzutage würde dieses Verhalten von uns Schülern/innen als Mobbing gegenüber dem Lehrer bezeichnet. In der Mittelstufe, also in den Klassen Untertertia bis Untersekunda, hatten wir einen Erdkunde-Lehrer, Herrn V. Herr V. war bereits über der Altersgrenze, er war pensioniert, unterrichtete dennoch weiter am hiesigen Gymnasium.
Herr V. machte unglaublich langweiligen Erdkunde-Unterricht, als dessen Grundlage er aus einem handschriftlich ausgearbeiteten Heft vorlas, das so alt war, daß es bereits vergilbt war.
Eigentümlich an diesem Lehrer war die Tatsache, daß er sich mit dem Pausen-Gongschlag noch im Klassenzimmer stehend eine Zigarette anzündete, die ersten Züge genüßlich einsog und sich dann unverhohlen rauchend durch das Schulgebäude gen Lehrerzimmer in Bewegung setzte.
Herr V. war jenseits. Er bewegte sich außerhalb jeglicher gesellschaftlicher Konventionen und Regeln. Ich habe nicht erlebt, daß Herr V. jemals von Schulleitungsseite wegen seines Regelübertretens gerügt wurde.
Konservativ und autoritär, diese Verbindung mußte in Person von Lehrern nicht unbedingt negativ sein. Ein Beispiel dafür war Frau Dr. H. Sie unterrichte weit über die Altersgrenze hinaus, war über ein Studium Generale für viele Unterrichtsfächer qualifiziert und schöpfte aus einem nahezu unbegrenzten Pool an Wissen.
Sie hatte die Fähigkeit, Unterricht so lebendig zu gestalten, daß es uns Schülern/innen selbst während der schwierigen Phase der Pubertät Spaß machte, ihren Unterricht zu besuchen.
Frau Dr. H. besaß natürliche Autorität, Ansehen, Einfluß, Autorität im ursprünglichen, im positiven Sinne.
Eine wirkliche Giftspritze dagegen war Frau F. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, sie in der Oberstufe im Leistungskurs drei lange Jahre fünf Stunden in der Woche genießen zu dürfen. Das war nicht so ohne.
Druck über Noten, Abfragen des Stoffes der vorangegangenen Unterrichtsstunde, autoritäres Gehabe. Sympathien spielten eine bedeutende Rolle. Sechs Schüler/innen in dem Kurs, eine Lehrerin, drei lange Jahre, das war intensiv. Ich habe dies überlebt, aber schön war es nicht.
Sie kam des öfteren zu spät in den Unterricht, überzog dann in die Pausen hinein mit der Begründung, wir hätten nicht so mitgearbeitet, daß sie in der vorgegebenen Zeit ihren Stoff habe durchbringen können.
In diesen Situationen konstruktiv Widerstand zu leisten oder gar Protest anzumelden, war für uns, die wir nun wahrlich nicht unmutig waren, kaum möglich. Wir haben es erduldet.
Herr M., Englischlehrer in der Oberstufe, kam regelmäßig zehn bis fünfzehn Minuten zu spät in den Unterricht, hörte dafür aber zehn Minuten früher auf.
So entwarfen wir als Schüler das folgende Bild: Würde Herr M. 20 Minuten später kommen und 25 Minuten früher als das offizielle Unterrichtsende gehen, würde er sich selbst im Schulflur begegnen.
In der 11. Klasse habe ich im Rahmen der sogenannten Reformierten Oberstufe einen Grundkurs Deutsch belegt. Hier stand eine schriftliche Klausur zu dem Thema Mittelhochdeutsch an, was nicht gerade als eines meiner Lieblingsthemen zu bezeichnen war.
Der Lehrer, Herr G., schloß in der letzten Sitzung vor der Klausur Themengebiete aus, die nicht in der Klausur abgefragt werden würden, die wir folglich auch nicht vorbereiten mußten.
Was passierte tatsächlich in der Klausur?
Genau die Bereiche, die Herr G. zuvor ausgeschlossen hatte, waren Gegenstand der Klausur, ausschließlich diese. In diesem Kurs waren wir zehn Schülerinnen und Schüler, alle 16 oder 17 Jahre alt.
Wir waren erstaunt, als wir die Klausuraufgaben lasen, denn Herr G. war keinesfalls als ein Unmensch