Auf dem Standesamt von Goldberg wurden Gertrud und Max im Beisein von Gertruds Eltern und ihrer Schwester getraut. Auf den kirchlichen Segen verzichtete das junge Paar, sehr zur Freude von Gertruds Vater, einem überzeugten Freidenker.
Von Max’ großer Verwandtschaft war lediglich seine Mutter bei der Trauung anwesend.
Gertruds Eltern mochten Max. Vor allem ihr Vater war von seinem Schwiegersohn sehr angetan. Alfred Behringer erkannte in ihm sogleich eine verwandte Seele. Er war zutiefst davon überzeugt, dass sein Schwiegersohn die hochfliegenden Pläne, welche er hegte, mit Elan verfolgen würde. Der Junge besaß einen äußerst scharfsinnigen Verstand und zumindest finanziell würde es Gertrud, seiner Tochter, künftig an nichts fehlen. Allein ob sie tatsächlich zu Max passte, das bezweifelte selbst der Vater innerlich. Er fand seine Tochter stets eine Spur zu asketisch und kühl, zu wenig weiblich und aufreizend, als dass er sie für eine gute Partie hielt. Leider ähnelte sie ihrer Mutter allzusehr, nicht nur äußerlich. Sie gab sich wie diese: herb, streng, unnachsichtig, ja geradezu pedantisch und kalt. Dieser lebensfrohe Schwiegersohn würde es vielleicht schaffen, seiner Tochter Leben einzuhauchen, etwas, was er bei der eigenen Frau vergebens versucht hatte. Und sollte sich Gertruds puritanische Erziehung als stärker als die Lebensfreude des Schwiegersohns erweisen, nun dann würde dieser, wie er selbst es getan hatte, andere Gespielinnen zu finden wissen.
Es mochte irgendwo eine lichte Zukunft auf Max Ludewig warten, allein zum Zeitpunkt seiner Hochzeit besaß er schlichtweg nichts außer einem modischen Anzug, einem Motorrad mit Seitenwagen, eine hochschwangere Frau und einen Himmel voller Träume. Vor allem besaßen Max und Gertrud als Paar keine Bleibe, das bedrückte Gertrud am meisten. Anfang Februar sollte sie niederkommen, aber wo? Natürlich bliebe ihr die elterliche Villa als Zufluchtsort, aber sie verbot sich, diese Variante auch nur zu denken. Das Studentenzimmer in Rostock überließ ihr die Witwe Loeser auch für die Zeit des Facharztpraktikums, doch für ein Kind war darin wahrlich kein Platz.
Versuchte sie mit Max über das Thema zu reden, wiegelte er ab. Er sah nirgends ein Problem. Einstweilen würden sie bei seiner Mutter unterkommen, die gerade im Begriff stand, aus dem Forsthaus in Kogenhagen nach Geestade, in den windschiefen Katen ihrer Eltern, einzuziehen. In dem Haus am Wald, in welchem Max’ Mutter mehr als ein halbes Menschenleben verbracht hatte, konnte sie nach dem Tod ihres Mannes plötzlich nicht mehr leben. Sie fürchtete sich weniger vor nächtlichen Eindringlingen als vielmehr vor dem Geist des Verstorbenen. Als Zufluchtsort wählte sie Geestade, das Dorf ihrer Kindertage. Sie ahnte, dass ihr Aufenthalt dort nicht von langer Dauer sein würde. Der Zahn der Zeit hatte an dem Haus, das seit dem Tod ihrer Mutter leer stand, genagt. Vor allem das Dach und die Fenster waren lädiert, aber so lange sie lebte, würde das Haus standhalten und hernach mochte es getrost der Wind forttragen.
Max, der nicht nur gut aussah, sondern auch über handwerkliches Geschick verfügte, hatte den Katen im Sommer für seine Mutter instand gesetzt, nicht ganz selbstlos, wie er offen einräumte. Er spekulierte insgeheim auf das großelterliche Anwesen. Hier, auf diesem Stück Land sollte sein Traum vom Haus am Wasser dereinst wahr werden. Er liebte diesen Flecken Erde innig. Als kleiner Junge hatte er die Schulferien hier verbracht. Aus diesen Tagen besaß er bis heute treue Freunde und einen riesigen Vorrat an guten Erinnerungen. Geestade erschien ihm wie ein Versprechen auf das einstige Kindheitsglück.
Gründlich wie er war, verständigte er sich mit seinen Schwestern darauf, dass er die Mutter und das großelterliche Anwesen übernehmen werde. Keine von seinen drei Schwestern brannte darauf, den alten, windschiefen Katen zu besitzen. Ihre Mutter gut versorgt zu wissen, kam derweil ihren eigenen Interessen entgegen. Max regelte alles juristisch korrekt, die Zukunft allzeit fest im Blick.
Im Februar des Jahres 1952, in einer klaren, frostigen Winternacht, wurde Griseldis, Großmutters älteste Tochter, meine Tante, in ebendiesem Katen geboren. Als die Hebamme aus der Stadt eintraf, lag das kleine Mädchen bereits gewickelt in der Wiege und Gertrud erschöpft in den dicken Federkissen ihrer Schwiegermutter. Zu Großmutters Erschöpfung gesellte sich Scham. Während der letzten Stunden des Geburtsvorgangs hatte sich Großmutter nicht souverän wie eine angehende Ärztin aufgeführt. Der Schmerz und die endlose Dauer der Wehen hatten sie zermürbt und zu hysterischen Weinkrämpfen getrieben, welche der stummen Schwiegermutter die Sprache wiedergaben.
„Is doch gaud, min Deern“, hatte die Schwiegermutter immer wieder beschwichtigend auf ihre Schwiegertochter eingeredet.
Sie hatte sich als überaus lebensklug und praktisch erwiesen und das Kommando übernommen. Mit ihren von der Arbeit harten Händen hatte sie Trost und Zuversicht gespendet, mit ihrer Stimme zum Durchhalten motiviert. Schließlich hatte sie fachgerecht die Nabelschnur durchtrennt und das kleine Mädchen mit einem ganzen Schwall von Koseworten willkommen geheißen.
So viele Worte wie in dieser Nacht hatte die Schwiegermutter in all den Monaten, die Gertrud sie nun kannte, noch niemals gesprochen. Es schien, als habe sich mit der Geburt ihrer Enkelin die Zunge aus ihrer Erstarrung befreit.
Zweifellos, das erkannte Großmutter augenblicklich, war die kleine Griseldis bei ihrer Schwiegermutter in guten Händen. In aller Ruhe konnte sie selbst nach ein paar Wochen der Erholung zurück nach Rostock fahren und das Facharztpraktikum beginnen.
Der gutmütigen alten Frau, der keine Arbeit jemals zuviel wurde, bedeutete die Kleine eine unendliche Freude. Sie hielt den alten Katen blitzsauber, sie setzte den verwilderten Garten instand, sie pflanzte und säte, sie kochte und wusch und sprach dabei immerfort mit der Kleinen oder sang ihr mit brüchiger Greisinnenstimme alte Kinderweisen vor.
Max arbeitete inzwischen im Sägewerk in der nahen Kreisstadt und wohnte, zusammen mit seiner Mutter und seiner Tochter, im Katen.
Gertrud, meine Großmutter, kam lediglich an den Wochenenden, an denen sie keinen Dienst hatte, mit der Bahn nach Geestade gefahren. Dann überschüttete sie das Kind, das fremdelte, mit Zärtlichkeiten, die ihrem schlechten Gewissen entsprangen. Sie spielte gedankenlos mit ihm und war zugleich froh, wenn das Wochenende vorüber war, wenn sie dem engen Katen entfliehen und sich in das Zimmer, das nur ihr gehörte, zurückziehen konnte. Dieses Zimmer in Rostock, wo sie nach Feierabend keinerlei Verpflichtungen unterlag, erschien ihr wie das Paradies auf Erden. Wenn sie sagen sollte, was sie in diesem Zimmer trieb, es fiele ihr schwer. Sie schlief lange, sie verlor sich in Tagträumen.
Bereits in den ersten Monaten ihres Ehelebens befiel Großmutter der Verdacht, dass sie den Mann, dessen Namen sie nun trug, wenig kannte. Der Verdacht verhärtete sich immer dann, wenn sie für den kurzen Zeitraum von ein oder zwei Tagen in Geestade weilte. Max schien ihr dann seltsam fremd.
Sein Äußeres blieb unverändert, auch die Charakterzüge erwiesen sich als konstant. Wenige Monate hatten ihm genügt, sich in Geestade zu etablieren. Jedermann im Ort kannte und grüßte ihn und umgekehrt kannte er alle Einwohner. Er hatte in der kurzen Zeit seit seiner Rückkehr Ideen und Visionen für den Ort und seine Einwohner entwickelt, Mitstreiter um sich geschart. Nicht allein, dass er die freiwillige Feuerwehr neu organisierte, er kämpfte um ein Gemeindehaus mit Kindergarten und Arztpraxis. Er setzte sich für die Belange der Leute vor Ort ein und verlor dabei seine eigenen Interessen zu keinem Zeitpunkt aus dem Blick. In der hiesigen Arztpraxis, die bislang nur in seinen Vorstellungen existierte, sah er seine Frau wirken. Es behagte ihm keineswegs, eine Wochenendbeziehung zu führen. Max Ludewig war ungeachtet seiner Machoallüren ein sehr liebebedürftiger Mann. Er wünschte sich, nachts die Wärme seiner Frau zu spüren, er sehnte sich nach Streicheleinheiten, kurzum: nach dem Ende von Gertruds Facharztpraktikum.
Großmutter würdigte diese Seite von Max’ Engagement nicht. Sie sah nur, dass er immerfort unterwegs war. Sie sah es mit Eifersucht. Nicht, dass sie ihm eine Liebschaft unterstellte, aber sie registrierte, dass ihr Mann bei Alt und Jung beliebt war, während man ihr kühl und abwartend begegnete. Die fragenden Blicke der Dorfbewohner behagten ihr nicht. Sie fühlte sich taxiert und an ihrem Mann gemessen, so wie sie in Goldberg an ihrem Vater gemessen worden war. Die Neugier der Einwohner verursachte ihr Bauchschmerzen. Sie war stets froh, Geestade nach dem Wochenende zu entkommen, in die Anonymität der Stadt