Eines Nachts, kurz vor Ende des Krieges, als unzählige Militärautos auf dem Rückzug über die Landstraßen rasten, wurde Karl Mertens überfahren. Er hatte sich irgendwo betrunken und, die volle Straßenbreite ausschreitend, den Heimweg gesucht, als das Auto ihn frontal rammte. Er war sofort tot.
Als der jüngste Sohn wohlbehalten aus der Gefangenschaft heimkehrte, fand er von seiner Familie niemanden mehr. Dieses Schicksal hatte Mitgefühl erregt, es hatte in und um Kogenhagen lange für Gesprächsstoff gesorgt und war auch Annelies bekannt. Was sie nunmehr am meisten erstaunte und zugleich beunruhigte war die Tatsache, dass der junge Mann Schuld an ihrer Misere empfand, er, der wahrlich schuldlos an ihrem Leid war. Er besuchte sie in den Folgetagen öfter. Mitfühlend erkundigte er sich, ob er ihren Eltern Bescheid geben solle.
„Bloß nicht“, wehrte sie ungewöhnlich heftig ab.
Ihr Vater lebte seit jener Nacht, da er der Vergewaltigung von Frau und Tochter machtlos zusehen musste, das Leben eines gebrochenen Mannes, dem der Tod eine Erlösung verhieß. Ihre Mutter war seither verstummt. Sie sprach kein Wort mehr. Sollte Annelies den Schmerz der beiden Leidgeprüften mehren?
Doch wohin sollte sie gehen, wenn man sie entließ? Zurück ins Wohnheim zu den Kolleginnen, ihren Fragen, ihrem Mitleid, ihrem Spott und ihrer Neugier, wagte sie sich nicht. Die Schande hing ihr wie ein Mühlstein um den Hals. Sie wusste plötzlich nicht weiter und begann verzweifelt zu weinen. Der junge Mann stand hilflos vor dem Metallbett. Sollte er einen Arzt herbeirufen? Seine Hilflosigkeit rührte Annelies und bewog sie, ihre Sorgen offen vor ihm auszubreiten. Er versprach, sich rasch um eine Lösung zu kümmern.
Bei seinem nächsten Besuch wusste er die Lösung. Er schlug Annelies vor, zu seiner Großmutter nach Zingst zu ziehen. Die alte Frau lebte allein in einem alten Fischerkaten, ihr würde ein wenig Gesellschaft gut tun.
So geschah es. Annelies bekam die Dachkammer, die Fürsorge einer gütigen alten Frau, täglich eine warme Mahlzeit und an den Wochenenden Besuch von Friedhelm, der sich als Tischlergeselle in Barth verdingte und über der Werkstatt von Meister Schulten eine schmale, nicht heizbare, Kammer bewohnte.
Die anfängliche Furcht vor dem Mann, Friedhelm, wurde ganz allmählich von anderen Gefühlen verdrängt. Annelies ertappte sich dabei, dass sie an den Wochenenden sehnsüchtig auf Friedhelm wartete. Durch das Küchenfenster hielt sie beim Gemüseputzen verstohlen nach ihm Ausschau. Sobald sie ihn erspähte, begann ihr Herz vor Freude zu springen, röteten sich ihre Wangen. Nach dem Mittagessen, wenn Oma Malwine ihr Schläfchen hielt, wanderte das junge Paar, das kein richtiges Paar war, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit am Strand entlang. Anfangs mieden sie jede Berührung, jedoch eines Tages ergriff Friedhelm Annelies’ Hand und hielt sie im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne einfach fest.
Vermutlich wäre über Monate hinweg nichts weiter passiert, wäre nicht mit Macht der Winter über Land und Leute hereingebrochen.
Annelies arbeitete inzwischen in der Buchhaltung der Konservenfabrik. Eines Abends, als sie das Büro verließ, waren alle Wege aus der Stadt heraus unpassierbar geworden. In ihrem Büro hatte Annelies nicht bemerkt, dass den ganzen Tag über lautlos weiße Flocken zur Erde geschwebt waren, anfangs vereinzelt, als hätten sie sich verirrt, dann in dichter Folge. Der Berufsverkehr musste wegen unpassierbarer Wege eingestellt werden. Die Straßen und Plätze befanden sich allesamt fest in der Hand des Winters. Lange sann Annelies nach einer Möglichkeit, nach Hause, zu Oma Malwine, zu gelangen. Schließlich stapfte sie zu Fuß los, meinte sie doch die Wegstrecke in ein paar Stunden bewältigen zu können. Sie erkannte ihren Irrtum bevor sie überhaupt den Stadtrand erreichte. Im Laufe dieses einen Tages war so viel Schnee gefallen, dass sie bis zu den Knien darin versank. Der Wind hatte zudem den feinen Schnee überall zu Schanzen aufgetürmt. Nach wenigen hundert Metern fühlte sich Annelies total entkräftet. Der Schnee war in ihr Schuhwerk eingedrungen, die Strümpfe durchnässt. Sie musste sich eingestehen, dass sie das Vorhaben, bis nach Zingst zu laufen, aufgeben musste. Als sie überlegte, wo sie unterkommen, die Nacht verbringen könnte, fielen ihr nur die Fabrik und die Tischlerei, in der Friedhelm arbeitete, ein.
Mühsam kämpfte sie sich durch den Schnee zur Tischlerei durch und wurde dort selbstverständlich aufgenommen. Am Küchenofen wärmte sie sich auf, trocknete sie die nassen Schuhe und Strümpfe. Zusammen mit den Meistersleuten tranken sie Pfefferminztee und klönten sie bis es Zeit wurde, sich schlafen zu legen.
In Friedhelms Kammer war es trocken, warm indes war es nicht. Die kleinen Fensterscheiben waren über und über von Eisblumen bewachsen. Es gab keinen Ofen. Wollten sie warm werden, dann mussten Friedhelm und Annelies unter das dicke Federbett schlüpfen, das Oma Malwine fürsorglich für den Enkel gestopft hatte, beide unter das eine. Sofort signalisierten Annelies’ Sinne Gefahr. Sie zitterte vor Furcht. Zugleich fühlte sie sich warm und behaglich unter dem voluminösen Deckbett.
„Hab keine Angst, ich tue dir nichts“, versicherte ihr Friedhelm.
Er hatte sie noch nie belogen. Dennoch lag sie angespannt auf der Lauer. Sie schlief nicht, sondern lauschte in die Dunkelheit, jederzeit bereit, die Flucht zu ergreifen, während Friedhelm friedlich neben ihr schnarchte.
Am Morgen machte sich Annelies pflichtbewusst auf den Weg zur Arbeit. Es gab keinen Strom und man schickte die wenigen Arbeiterinnen, die es überhaupt geschafft hatten, sich einen Weg durch die Schneemassen zu bahnen, mittags unverrichteter Dinge nach Hause. Annelies suchte wiederum Zuflucht in der Tischlerei. Bis zum Einbruch der Dunkelheit half sie in der Werkstatt Leisten zu verleimen, dann saß sie mit Friedhelm, dem Meister und seiner Frau bei Kerzenlicht um den Küchenofen.
Als alle sich zum Schlafen begaben, blieb wieder nur das eine Bett. Übermüdet schlief Annelies diesmal rasch ein. Am nächsten Morgen hatte sich an der Situation nichts geändert. In der Nacht war erneut Schnee gefallen und hatte die Wege noch unpassierbarer gemacht. Das Aufstehen lohnte nicht. Friedhelm holte aus seinem Vorratsschrank einen Kanten Brot und etwas Käse. Erstmals in ihrem Leben frühstückte Annelies im Bett. Sie fühlte sich danach so zufrieden, dass sie sich ohne viele Worte in Friedhelms Arm schmiegte. Eine Zeit lang lagen sie still und unbeweglich, dann begann Friedhelm sanft ihre nackte Schulter zu streicheln. Bald streifte er den Träger des Hemdes herunter und berührte mit seiner Hand ihre schwere Brust. Augenblicklich versteifte sich Annelies.
„Hab keine Angst“, redete Friedhelm ihr zu, „hat dir die Berührung weh getan?“
„Nein, das nicht.“
„Ich tue dir nicht weh. Komm, dreh mir dein Gesicht zu, oder hast du kein Vertrauen zu mir?“
Trotz aller Skepsis siegte das Vertrauen. Sie drehte sich zu ihm um und überließ Friedhelm ihre Brust. Er streichelte sie, wog sie in seinen Händen, küsste sie schließlich, leckte und sog daran. Seine Zärtlichkeit behagte ihr so sehr, dass sie genießerisch die Augen schloss. Es störte sie nicht, dass der Mann, der an ihrer Brust knabberte, sich zur gleichen Zeit mit der Hand selbst befriedigte. Ekel hätte sie lediglich verspürt, hätte er versucht, ihr die Beine zu spreizen und in sie einzudringen.
So fand sie es gut. Sie empfand diese Art des Zusammenseins als richtig und normal. Selbst als der Winter sich längst verabschiedete, schlief sie oft auf diese Weise neben Friedhelm. Von irgendwoher hatte er sich ein klappriges Fahrrad beschafft, mit welchem er nun beinahe täglich zu ihr nach Zingst radelte. Ohne einen Anflug von Furcht überließ sie ihm ihre Brüste. Selbst wenn seine Hand über ihren Bauch glitt, blieb sie ruhig und gelassen.
Der alte Fischerkaten stellte inzwischen ihrer beider Heim dar. Die alte Oma Malwine war noch im Winter gestorben. Jedermann in Zingst hielt Annelies und Friedhelm für Mann und Frau. Keiner ahnte, dass die Beziehung dieser beiden Menschen voller Komplikationen steckte. Annelies kaufte