Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eveline Luutz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783960082040
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sich vor ihrem Mann, vor seinem Verlangen. Er drängte und forderte zu jeder Tageszeit Sex. Er zog und drängte sie in Ecken, in denen er sich unbeobachtet wähnte, er übergoss sie mit Küssen und schob seine Hände verlangend unter ihre Kleider. Sie jedoch kam seinem Verlangen noch gehemmter als in den Rostocker Jahren nach. Nicht allein, dass sie eine zweite Schwangerschaft fürchtete, stets mutmaßte sie, ihre Schwiegermutter überwache jede ihrer Aktivitäten mit Argusaugen. Sie ließ sich ungern auf ein Liebesspiel ein, tagsüber im Freien nicht und nachts im Ehebett auch nicht. Hinter einer dünnen Bretterwand, in der zweiten Dachkammer, schliefen Max’ Mutter und Griseldis. Das Wissen um die Nähe der Schwiegermutter stellte für Großmutter eine unüberwindliche Hemmschwelle dar. Sie versteifte sich unter Max’ Zärtlichkeiten, sobald sie an ihre Schwiegermutter dachte, und ließ ihn lediglich lustlos gewähren. Max bemerkte ihre kühle Abweisung durchaus und befragte sie nach den Gründen.

      „Deine Mutter kann uns hören“, lautete die leise geflüsterte Erklärung.

      „Das war früher nicht anders, auch da haben die Eltern und Kinder einander gehört. Das hat ihrer Lust aber keinen Abbruch getan. Denk nicht an sie, lass dich einfach fallen.“

      Sicher hatte Max Recht, aber Gertrud konnte nicht aus ihrer Haut heraus. Sie war nicht fähig und nicht gewillt, jene gedankliche Barriere zu überschreiten. In den Nächten blieb Gertrud steif und unbeteiligt und am Tage, wenn Max versuchte sie ins Bett zu ziehen, lehnte sie sein Ansinnen als unschicklich ab. Noch bot ihr das Praktikum einen Schutzraum, eine Fluchtburg. Jedoch die Facharztausbildung endete viel zu früh. Großmutter zog endgültig nach Geestade, in den Katen. Sie kam in einen fremden Ort, zu einem fremden Mann. Sogar ihr Kind verkroch sich schüchtern in den Röcken seiner Oma. Was sollte sie hier?

      Am liebsten wäre sie gleich am ersten Tage für immer entflohen. Doch wohin sollte sie gehen? Sie fürchtete die Verachtung, die man einer Frau, welche Mann und Kind verließ, offen entgegenbringen würde. Das Pflichtbewusstsein und die Angst hielten sie mit unsichtbaren Fäden gefangen.

      Gertrud Ludewig bekam in der Poliklinik der Stadt eine Arbeitsstelle zugewiesen, die ihr einen neuerlichen Fluchtweg eröffnete. In der Stadt praktizierte Gertrud in einem eigenen Praxisraum. Die Arbeit gefiel ihr, auch der räumliche Abstand zu Geestade und seinen Einwohnern. Der tägliche Arbeitsweg mit dem Bus belastete sie nicht. Griseldis wusste sie gut von der Oma betreut. Die Oma, Frida Ludewig, kümmerte sich auch um die Einkäufe und den Haushalt. Gertrud konnte sich als junge Ärztin ganz und gar auf ihre Arbeit konzentrieren. Oder sollte ich sagen, sie konnte sich in ihre Arbeit verkriechen?

      Das Leben von Max hatte sich durch Gertruds tagtägliche Anwesenheit wenig verändert. Er fuhr morgens zur Arbeit in die Kreisstadt und abends, nach Feierabend ging er ins Dorf zu seinen Gefährten. Erst gegen Mitternacht kehrte er heim, kroch er lautlos zu seiner Frau ins Bett und bedrängte sie mit seinem leidenschaftlichen Verlangen.

      Als ob sie dem Eheglück ihres Sohnes nicht weiter im Wege stehen wollte, schlief eines Nachts Frida Ludewig ein, um nie mehr zu erwachen.

      Durch Fridas Tod lernte Gertrud nun endlich die gesamte Familie ihres Mannes kennen. Bis dahin war lediglich seine jüngste Schwester, Annelies, hin und wieder aus dem nahen Zingst gekommen, um ihre Mutter zu besuchen. Allerdings hatte Gertrud Annelies nur ein einziges Mal gesehen. Die Begegnung lag lange zurück. Damals war Griseldis gerade erst geboren und Annelies kam, um ihrer Schwägerin einen Wochenbesuch abzustatten und das kleine Mädchen in der Familie willkommen zu heißen. Gertrud fand Annelies und die Geste gleichermaßen nett. Diese unkomplizierte, freundliche Frau ihres Alters konnte sich Großmutter durchaus als eine unaufdringliche Freundin vorstellen. Die anderen beiden Schwestern ihres Mannes kannte Großmutter lediglich dem Namen nach und aus Erzählungen.

      Auf dem Friedhof traf Gertrud sie nun alle: Ingelore und Horst, Max’ älteste Schwester und deren Mann, Else und Gerhard, die im amerikanischen Sektor von Berlin wohnten und Annelies und Friedhelm. Alle drei Töchter von Frida Ludewig sahen ihrer Mutter sehr ähnlich. Schon jetzt, in jungen Jahren, neigten sie dazu, in die Breite zu gehen. Alles an ihnen war rund, weich und sehr weiblich. Die munteren graublauen Augen waren dieselben wie bei Frida und selbst die Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen wies sie unverkennbar als Fridas Töchter aus. Genau wie ihre Mutter besaßen alle drei ein unkompliziertes, freundliches Wesen und einen feinen, hintersinnigen Humor. Sie lachten gern und strahlten Wärme und Güte aus. Die Gesamtheit all dieser Eigenschaften verlieh jeder der drei Töchter eine eigenwillige Schönheit und Attraktivität, der auch Gertrud sich nicht zu verschließen vermochte. Keine der Schwestern wirkte hässlich oder gar abstoßend. Sie besaßen alle drei das gewisse Etwas; sie verkörperten selbstbewusste junge Frauen, die sogar ihrer allzeit nüchternen Schwägerin, Gertrud, irgendwie imponierten. Neidlos musste sie sich eingestehen, dass Max’ Schwestern in ihrer üppigen Weiblichkeit um ein Vielfaches schöner und anziehender wirkten als sie selbst.

      Bei den anwesenden Paaren zogen die Frauen die Aufmerksamkeit auf sich, lediglich bei ihr und Max war es umgekehrt. Max, der große und schlanke Mann mit den feinen Gesichtszügen und der angenehmen dunklen Stimme, zog alle Blicke an. Neben ihm wirkte Gertrud klein, grau und unscheinbar wie eine Maus. Niemand schien sie zu beachten und da sie sich selten in Gespräche einbrachte, verfestigte sich dieser Eindruck. Gewiss mutmaßten viele Geestader, was Max an dieser unscheinbaren, blassen Frau finde. Reizlos indes wirkte keine ihrer drei Schwägerinnen, im Gegenteil. Bei ihnen drohten die Männer an ihrer Seite ein wenig unterzugehen.

      Horst, Ingelores Mann, war ein hagerer Pantalon. Er hinterließ bei Gertrud einen intellektuellen, doch verschlossenen Eindruck. Selbst in Gesellschaft sprach er kaum. Wer ihn nicht kannte, konnte meinen, Horst sei stumm. Er saß schweigend in den Gesprächsrunden. Selbst wenn es hitzig zuging, beschied er sich zumeist mit der Zuhörerrolle. Kein Außenstehender vermutete in Horst einen klugen und scharfsinnigen Denker. Horst arbeitete in irgendeiner Behörde und behauptete hartnäckig von sich, zwei linke Hände zu haben. Er vermochte keinen Nagel in die Wand zu schlagen, verstand jedoch zur Freude der Verwandten recht passabel Akkordeon zu spielen. Zu ihm gelang es Großmutter nie, eine wirkliche Beziehung aufzubauen. Horst blieb ihr fremd. Er starb jung, mit gerade einmal vierzig Jahren.

      Ähnlich verhielt es sich mit ihrem Schwager Gerhard, Elses Mann. Gerhard war ein molliger, lebenslustiger und geselliger Mensch, allerdings standen die Berliner Mauer und die wenigen Möglichkeiten, einander zu treffen, einer engen Beziehung im Wege.

      Nur zu Annelies’ Mann, Friedhelm, entstand bereits bei der ersten flüchtigen Begegnung etwas, das Gertrud gleichermaßen beunruhigte und erfreute.

      Beim Leichenschmaus für die tote Schwiegermutter, Gertrud als Hausfrau hatte in der guten Stube des Katens den Tisch gedeckt und goss gerade Kaffee ein, da berührten sich ihre und Friedhelms Blicke einen Moment lang und versetzten Gertrud in einen Zustand, den sie selbst im Nachhinein kaum in Worte zu kleiden vermochte. Ihr war, als habe jemand eine unsichtbare Brücke von diesem Mann zu ihr geschlagen, die zu betreten sie sich insgeheim fürchtete und zugleich ersehnte. Ihr Herz begann aufgeregt zu klopfen. Alles in ihr schwang in der wunderbaren Spannung, die von diesem Mann ausging. Vor Aufregung röteten sich ihre Wangen und eine Woge ungeahnter Zärtlichkeit für den Fremden brandete in ihr auf, als dieser sie vertraut anredete: „Danke Trudi. Ich hoffe doch, dass wir uns demnächst bei einem freudigeren Anlass sehen.“

      Vor allem die Anrede „Trudi“ wirkte wie ein sanftes Streicheln ihres strengen Gesichts.

      Trudi, so hatte sie niemand jemals genannt. Gertrud, Trude, Gerte, das waren Rufnamen, die man ihr im Laufe des Lebens gegeben hatte, Namen, die ihrem herben Wesen entsprachen.

      Trudi, das klang verspielt, neckend. Es klang zärtlich und verheißungsvoll in Gertruds Ohren. Wie ein Versprechen erschien der Kosename meiner Großmutter. Der Name allein berührte etwas in Gertrud, das sie angenehm durchflutete, er erweckte etwas in ihr, das bislang verborgen lag, etwas, das ihr gefiel. Sie fühlte sich augenblicklich zu dem Unbekannten hingezogen, fühlte sich ihm nahe, von ihm in ihrem innersten Sehnen verstanden. Es war, als habe der Prinz, auf den sie seit Ewigkeiten sehnsüchtig wartete, endlich, nach tausend Irrwegen im Labyrinth, doch noch zu ihr gefunden.

      Gertrud Ludewig, eine allzeit nüchtern denkende Frau, die ihre Gefühle jederzeit unter Kontrolle