‚Ein Freund des Freundes der Familie‘, grübelte sie. ‚Seit Jahren umgeben sich meine Eltern mit einem Netzwerk von Seelenklempnern und Ärzten. Denn Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wenn jeder jeden kennt, ist es nur allzu einfach, mich ruhig zu stellen. Niemand erfährt von den Machenschaften, die sich innerhalb dieses Kreises abspielen, alles ist wasserdicht!‘
„Noromadi!“, hörte sie den Arzt plötzlich rufen. „Hörst du mir überhaupt zu?“ Die junge Frau zuckte zusammen und nickte eifrig.
„Was habe ich gesagt?“, fragte er herausfordernd.
„Dass Sie mich erst mit Neuroleptika und später mit Antidepressiva behandeln werden“, wiederholte sie brav. Der Arzt entspannte sich.
„Ja, und dass du dir wegen der Nebenwirkungen keine Gedanken machen sollst, da diese vorübergehender Natur sind.“
„Das müssen Sie nicht erklären, ich weiß es noch vom letzten Mal.“
„Das ist eine offene Station“, fuhr der Mann beschwichtigend fort, „die Medikamente, die du jetzt erhältst, sind nicht so stark wie damals.“ Noromadi nickte und schluckte jegliche Widerworte hinunter. Der Arzt erhob sich und begleitete sie auf ihr Zimmer.
„Das“, lächelte er, „ist dein Reich! Ein Einzelzimmer“, schob er freundlich hinterher. „Deine Eltern haben dir Bücher und Zeitschriften dagelassen, schön. Ich lasse dich jetzt allein, damit du dich einrichten kannst. Nachher kommt eine Schwester, sie wird dich in den Aufenthaltsraum bringen, damit du auch die Anderen kennenlernst. – Mehrmals in der Woche finden Kurse und Sitzungen statt. Wir führen sie in der Gruppe und einzeln durch. Die Schwester wird dir alles erklären.“
„Sind die Sitzungen alle bei Ihnen?“
„Hier bei uns gibt es neben Einzel- und Gruppengesprächen eine Mal-, Tanzund Musiktherapie. Nur die Einzel-Gespräche sind bei mir. Alles andere wird von meinen Kollegen durchgeführt.“
„Ich hoffe, dass ich nach Einnahme der Medikamente noch in der Lage bin, die Termine auch mitzumachen“, seufzte Noromadi. Der Stationsarzt kräuselte die Stirn und verließ den Raum.
„Ein gewaltiger Vorzug, Freund der Familie zu sein“, flüsterte sie, „so bekommt man ein Einzelzimmer …“ Ein großes vergittertes Fenster mit Blick auf den Stationsgarten ließ viel Licht in den goldgelb gestrichenen Raum. Neben dem Bett stand ein kleiner Nachttisch mit Lampe, daneben ein Kleiderschrank, außerdem gab es einen Schreibtisch mit Stuhl. Sie packte ihre Habseligkeiten aus und verstaute sie im Schrank. ‚Offene Station hin oder her, alles derselbe Kram‘, dachte sie stirnrunzelnd und ließ sich auf das Bett fallen.
Die Schwester war groß, hager und sah verhärmt aus. Fältchen umgaben ihre runden dunklen Augen, deren Glanz trotz Alter und Müdigkeit noch nicht erloschen war. Sie begrüßte Noromadi mit einem leichten Händedruck und einem freundlichen Lächeln. Dann holte sie eine Pillenschachtel mit mehreren Fächern hervor, welche die Aufschriften „Morgen“, „Mittag“ und „Abend“ trugen. Sie legte sie auf den Nachttisch und Noromadi sah die vielen bunten Pillen. Sie staunte über die Menge.
„Nur fürs Erste“, sagte die Schwester beruhigend. „Es werden weniger werden.“ Sie zwinkerte der jungen Frau zu und entlockte ihr ein Lächeln. „Morgens um acht Uhr ist Frühstück, um 13 Uhr essen wir zu Mittag und um 18 Uhr zu Abend – alles in der Kantine! Sie müssen also zeitig aufstehen. Deswegen habe ich Ihnen auch den hier mitgebracht!“ Sie stellte einen kleinen rosafarbenen Doppelglocken-Wecker neben die Pillenschachtel. „Hier haben Sie eine Liste der Therapiesitzungen. Ich heiße übrigens Frau Fischer!“ Mit dünnem Zeigefinger tippte sie auf ihr Namensschild. „Sie können mich aber gerne Beate nennen.“
„Freut mich, ich heiße Noromadi“, lächelte die junge Frau und gab ihr erneut die kleine, dunkle Hand.
„Ein schöner Name. Sie stammen nicht aus Deutschland?“
„Doch, schon. Nur der Name kommt woanders her.“
„Woher denn?“, wollte Beate wissen.
„Meine Mutter hat ihn in einem Buch mit alten Namen gefunden, das sie in einem Antiquariat durchgeblättert hat. Sie erinnert sich jedoch nicht mehr an seine Herkunft.“
„Ah, schade“, bekannte die Schwester. „So, nun nehmen Sie bitte die Tabletten ein. Sie müssen vor der Mahlzeit eingenommen werden.“ Noromadi griff in das Fach „Mittag“ und holte die beiden Pillen heraus. Weigern, das wurde ihr jetzt klar, konnte sie sich nicht mehr.
‚Auf das neue Leben‘, dachte sie und spülte sie mit einem kräftigen Schluck Wasser hinunter. Dann wurde sie durch lange Korridore zum Aufenthaltsraum geführt.
„Links von der Tür hängt das schwarze Brett.“ Beate blieb stehen. „Die meisten Termine finden im Aufenthaltsraum statt. Rechts sehen Sie einen Plan, in dem die anderen Therapieorte verzeichnet sind.“ Der Plan war groß, bunt und naiv gestaltet, als sollten Kinder davor bewahrt werden, sich in den weiten Hallen der Psychiatrie zu verirren. Noromadi runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
„Muss ich denn alle Termine besuchen?“
„Alle nicht, sie decken sich teilweise mit Ihren Einzelsitzungen. Wenn Sie jedoch keinen Einzeltermin haben, sollten Sie hingehen. Hier können Sie sich in großer Runde mit einem Therapeuten und Ihren Mitpatienten unterhalten.“ Sie deutete auf eine bestimmte Zeile. „Und da können Sie malen oder musizieren, je nachdem, wonach Ihnen ist.“
„Also sind die Termine Pflicht und zugleich keine Pflicht, richtig?“
„Genau!“, lachte die Schwester. „Lassen Sie sich regelmäßig sehen, dann ist alles gut. Wenn Sie in den Garten gehen wollen, fragen Sie in der Anmeldung nach. Haben Sie noch Fragen?“
„Wie kann ich Sie erreichen?“
„Einfach den Knopf neben Ihrem Bett drücken. Tun Sie das aber bitte nur in Notfällen, beispielsweise wenn Sie nicht mehr aufstehen können. Ansonsten bin ich im Schwesternzimmer des Korridors zu finden, auf dem Ihr Zimmer liegt.“
„Okay, vielen Dank!“ Noromadi nickte Frau Fischer noch einmal zu und betrat den Aufenthaltsraum. Er war hell und geräumig mit großen vergitterten Fenstern. Überall standen kleinere und größere Tische mit den entsprechenden Sitzgelegenheiten. Die Stühle erinnerten Noromadi an ihre Schulzeit: Sie waren klein und schienen hart zu sein. An den Wänden hingen Poster mit Naturaufnahmen, andere Stellen waren selbst bemalt. An der Unbeholfenheit der Ausfertigungen erkannte Noromadi, dass es sich um das Werk der Insassen handeln musste. In einer Ecke des Raumes hing weit oben, unerreichbar für jedermann, ein kleiner Fernseher. Später erfuhr die junge Frau, dass er, wenn mal keine Sitzungen und Kurse stattfanden, im Dauereinsatz war. Da keiner der Patienten ihn bedienen konnte, mussten sie sich mit dem begnügen, was gerade lief. Meistens waren es irgendwelche Soaps. In den einfach gezimmerten fest angeschraubten Regalen lagen Zeitschriften, weiche Gummibälle und allerlei anderer abgegriffener Kram. Die Angestellten hatten aber alles entfernt, was zu Wurfwaffen oder Stechwerkzeugen umfunktioniert werden konnten.
‚So ist das, man darf nur unter Beobachtung malen oder musizieren. Nicht, dass sich einer hier mit einem Pinselschaft noch die Augen aussticht!‘ Noromadi nahm auf einem der Stühle Platz, die ebenfalls am Boden angeschraubt waren. Den Tisch zu verrücken, wollte sie erst gar nicht versuchen. Sie strich sich eine Strähne von der Stirn und blickte sich unter den Patienten um. Überall saßen ruhig gestellte Menschen mit fahlen Gesichtern, die vor sich hin stierten. Ihre Auren wirkten matt. Noromadi blinzelte. Das Bild verschwamm plötzlich und die Energien um Gegenstände und Menschen schienen blasser zu werden. Sie schüttelte sich und erkannte mit schwerem Kopf, dass nun wohl die Wirkung der Medikamente einsetzte. Ihr Magen zog sich vor Übelkeit zusammen und sie erinnerte sich, was Frau Fischer gesagt hatte: ‚Die