„Ja, schneller dort!“
„Woher weißt du, dass er mein Schüler werden will?“
„Zweifelst du etwa jetzt schon an deinem Vorhaben? So kurz, nachdem du es ausgesprochen hast?“
„Nein, nein …“ Retasso rieb sich nervös das Kinn. „Aber Parthion? Der wird das nie und nimmer wollen! Ich werde auf keinen Fall den weiten Weg zurücklegen, nur damit er mir ins Gesicht bellt, dass ich mich zum Teufel scheren soll!“
„Aha, dann willst du … wohin genau gehen? Ziellos durch die Weltgeschichte irren? In der Hoffnung, dass dir ein Schüler irgendwann in den Schoß fällt? Außerdem liegt Fisàr Tarà auf dem Weg zu dir nach Hause. – Erinnere dich an deinen letzten Besuch dort.“ Retasso wurde auf einmal ganz still. Bilder nahmen vor seinem inneren Auge Gestalt an.
„Du erstaunst mich immer wieder, Pythera“, sagte er leise, „woher weißt du, was ich dort erlebt habe? Ich habe es dir nie erzählt.“
„Woher ich das weiß, spielt keine Rolle! Glaub mir, Parthion ist ein guter Junge. Er ist verschlossen und etwas wortkarg, aber umso intelligenter und sehr begabt.“
„Als ich das letzte Mal dort war, habe ich am Wasser gesessen und er war dabei. Er hat nichts gesagt, Pythera, immer nur dem gelauscht, was ich anderen zu sagen hatte.“
„Das spricht doch für sein Interesse“, antwortete die Heilerin schlicht. Da musste der Gniri ihr recht geben.
„Ich habe auch schon darüber nachgedacht, ihn zu fragen, und wahrscheinlich würde er auch ja sagen, aber …“, Retasso strich sich nervös über das spitze Kinn.
„Seine Eltern haben nicht mehr Autorität als du, Retasso, und du verfügst über zwei Qualifikationen: der eines Fürsten-Kriegers und der des Heilers. Du kannst den Jungen in beidem unterweisen. Sie können dir also nicht vorwerfen, dass ihr Sohn etwas versäumt, wenn er in deine Lehre tritt.“ Retasso atmete erleichtert auf. Er fühlte sich verstanden.
„Und nun lass uns nicht mehr über Geschäfte reden, sondern feiern! Siehst du die Musikanten dort? Sie warten schon auf uns!“ Die Heilerin kniff ihm zärtlich in die dunkle Wange.
„Du meinst, sie warten auf dich“, grinste er.
„Nein, auf uns!“ Sie zog ihn auf die Beine zu einem Platz nahe am Feuer, und der Tanz begann! Es wirbelten Klänge durch die Luft, die aus merkwürdigen Gebilden aus verschiedenen Naturmaterialien ertönten, die den Instrumenten von Menschen nicht einmal entfernt ähnelten. Nur die Flöte glich der menschlichen. Trällernde Stimmen in gurrendem und hochtönendem Singsang untermalten den archaischen Rhythmus, der die Erde erbeben ließ und trotzdem so leicht dahinflog wie ein Vogel. Die Melodie begann langsam und behäbig und wurde dann rasanter.
Retasso drehte sich mit Pythera im Kreis, bis alles um sie herum wirbelte und die Farben der Umgebung miteinander verschmolzen. Dabei ließ er kein Auge von ihr und sein Herz hüpfte vor Freude. Diese Frau war einfach wunderbar, doch konnte sie sehr unnahbar sein. Dennoch erfreute sich Retasso an den herben Konturen ihres jungen und doch alten Gesichts mit den großen Ohren und den bernsteinfarbenen Augen, die hart wie ein Diamant und sanft wie Honig dreinschauen konnten. Sie war von großem Wuchs. Retasso kannte auf der ganzen Welt keine Gniri mit solch eigentümlich schönem Aussehen. Wie alt sie wohl sein mochte? Er hatte sie nie gefragt.
Pythera spürte seine festen gedrungenen Hände in den ihren, sah sein lockiges schwarzes Haar durch die Luft wirbeln und versank in seinen dunkelbraunen Augen, die sie aus einem feinen Antlitz mit hohen Wangenknochen und dunklen Lippen anschauten. Es war nicht nur der exotische Reiz des dunkelhäutigen Gniri aus Echür Tarà6, der sie so sehr faszinierte, sondern auch seine Weisheit, die aus dem Blick sprach.
Retasso spürte sein Herz schneller klopfen und als der Rhythmus so schnell war, dass alles um sie herum miteinander verschwamm, gab es nur noch sie und ihn. Da er nicht wagte auszusprechen, was er dachte, blieb er stumm und sah sie an wie eine Göttin, die unerreichbar ist und deren Büste man liebt, ohne die reale Person je berührt zu haben.
Pytheras Herz machte einen kleinen Satz, der sich anfühlte wie ein Schluckauf. Sie hatte ihn angesichts seiner Anwesenheit oft verspürt, aber in diesem Augenblick schien er ihr ungleich intensiver.
Die Melodie verstummte und die beiden hielten an. Schweißtropfen standen ihnen auf der Stirn, die Welt um sie herum drehte sich noch ein wenig weiter. Sie hielten sich an den Händen und sahen einander an. Plötzlich bekam ihr Gesicht einen entschlossenen Zug. Ohne zu zögern zog sie ihn fort – fort von dem fröhlichen Fest, durch Wald und über die Wiese, bis knapp an die Grenzen ihres Reichs, dort machte sie Halt. In den Bäumen um sie herum war es totenstill. Sie sah ihn lächelnd an. Retasso spürte ihren hastigen Atem auf seiner Haut, ihre weichen Lippen auf den seinen – und war vollkommen perplex. Als er ihren Kuss erwidern wollte, ließ sie von ihm ab. Ihr Blick bekam etwas Hastiges, ja Ängstliches, und ihre Hände umfingen krampfhaft die seinen.
„Nicht“, sagte der Gniri leise und fuhr ihr mit seiner kleinen Hand sanft über die Wange. „Bitte bereue es nicht. Ich tue es auch nicht. Und …“, er hielt inne und legte seinen Zeigefinger auf den Mund, „meine Lippen sind versiegelt.“ Er nahm die hochgewachsene Frau in seine Arme, sie gab schließlich nach, ließ sich fallen und genoss seine Nähe in stiller Rührung. So standen sie eine Weile ohne etwas zu sagen. Nur der abnehmende Mond war ihr stiller Zeuge.
Rangiolf saß am Feuer und kaute an einem Kiefernrindenkuchen. In der anderen Hand hielt er eine Flasche Schnaps, aus der er ab und an einen Schluck nahm, um die Happen hinunter zu spülen. Finilya war nicht bei ihm. ‚Sie gibt ihren Freundinnen die frohe Kunde unserer Hochzeit bekannt‘, dachte er, während seine hellen Augen den tanzenden Feuergeistern nachjagten, die in den Flammen ihr Spiel trieben. Mit einem Mal schoss ihm Retasso durch den Sinn, er erinnerte sich an den feurigen Tanz, den der mit Pythera hingelegt hatte.
‚So eine weise Frau, aber die Liebe gibt auch ihr Rätsel auf‘, dachte er und schüttelte den Kopf. ‚Ich frage mich, was Leute, die den Weg des Heilers gehen, an sich haben, dass sie sich keine Liebe erlauben? Es ist doch klar, Retasso liebt sie und sie liebt ihn, aber irgendwie … wollen sie und können nicht, und könnten, wenn sie es wollten.‘ Er schob sich das letzte Stück des Gebäcks in den Mund, spülte den Rest Branntwein hinterher und rülpste leise. ‚Wovor haben sie Angst? Sie haben keine Eltern, die dagegen sein könnten! Vielleicht‘, grübelte Rangiolf, während er an seiner Steinkette nestelte, ‚vielleicht ist es ihre Vergangenheit? Oder sein Freiheitsdrang, der es ihnen verbietet, zusammenzukommen?‘ Dann hielt er inne und befragte seine Intuition.
„Wenn ich nur halb so hellsichtig bin wie Pythera, dann habe ich recht!“, murmelte er leise und nickte vor sich hin.
„Womit hast du recht?“, raunte eine bekannte Stimme an sein Ohr. Er schaute auf und sah in Finilyas dunkle Augen.
„Damit, dass ich dich auf einen Tanz entführe“, grinste Rangiolf. Er erhob sich, schnappte ihre Hand und zog sie in das Getümmel.
Pythera löste sich sanft aus Retassos Umarmung.
„Versprich mir, dass du dich schnell auf den Weg machst und schnell wiederkommst“, sagte sie und sah ihn eindringlich an.
„Ich verspreche es“, versicherte der Gniri. „Bis dahin schau, dass du das Beste aus Allem machst, und vor allem, meine Liebe: Bleib wachsam und lass dich nicht entmutigen. Deine Schwester Gàschìwa wird dir nach wie vor keine Hilfe sein. Aber sei gewiss, die Hilfe kommt in deiner verzweifeltsten Stunde, wenn du sie am wenigsten erwartest, und eine Idee solltest du nicht verwerfen, nur weil die Lösung in weiter Ferne zu liegen scheint.“ Pythera senkte den Blick und nickte.
„Ja“, sagte sie leise, „das weiß ich wohl. Ich werde tun, wie du sagst, so gut ich es kann.“ Dann sah sie ihn an und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Komm, sie werden nach mir suchen.“ Sie wollte eben loslaufen, als Retasso nach ihr griff.
„Was ist?“
„Eines möchte ich noch von dir wissen, es lässt mir keine Ruhe.