Wiener Wahn. Edwin Baumgartner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Edwin Baumgartner
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Культурология
Год издания: 0
isbn: 9783532600740
Скачать книгу
Ihnen sagen! Meine Großmutter, eine begnadete Köchin Altwiener Küche, ist auf dem Standpunkt gestanden, ein Semmelknödel hat so flaumig zu sein, dass es sich quasi von selbst zerteilt, wenn man es nur scharf anschaut. Meine Mutter hingegen, eine nicht minder begnadete Köchin Altwiener Küche, ist überzeugt gewesen, dass nichts als Semmelknödel durchgehen darf, was weicher ist als eine der Kugeln, mit denen der Feldmarschall Radetzky44 in der Schlacht bei Custozza seine Kanonen laden hat lassen.

      Damit komme ich zum Kaiser Ferdinand I.45 Der hat, mehr der Pflicht gehorchend als dem Vergnügen hingegeben, wieder einmal an einem Hofbankett teilgenommen. Bei solch einem Anlass ist es üblich, dass die Köche einander an Absonderlichkeiten übertreffen. Je ausgefallener, desto besser – das ist damals wie heute das Gleiche. Jetzt hat es dem Ferdinand aber gar nicht geschmeckt, was da aus der Küche auf den Tisch gekommen ist. Ich glaube, nach meiner Hymne auf die Knödel können Sie verstehen, wenn der Kaiser lieber Knödel gegessen hätte als Karpfen in einer Soße aus dessen eigenem Blut. So sitzt seine Majestät also da, und er mag die Hühnerpastete nicht und nicht den Karpfen und erst recht nicht die Flusskrebse, und die gebratenen Krammetsvögel46 mag er nicht und die Karpfenzungen hat er von je her geradezu verabscheut, und als der gebratene Stockfisch aufgetragen wird, sagt er zum ersten Mal, dass er lieber Knödel hätte, und ich kann ihm das nachfühlen, dem Ferdinand – Sie vielleicht auch. Richtig unwirsch ist er, als die Antwort des Dieners lautet, Knödel habe man keine vorgesehen, das sei nichts für eine festliche Tafel. Dann wird der gebratene Fischotter serviert, und der Ferdinand sagt wieder, er hätte lieber Knödel, und wieder heißt es, Knödel gäbe es heute keine. Als die Rinderzunge im Eierkuchen aufgetragen wird und der Ferdinand meint, jetzt wäre es an der Zeit, ihm Knödel zu bringen, und der Diener abermals sagt, Knödel gäbe es heute nun einmal nicht, da reißt ihm, dem Ferdinand, der Geduldsfaden und er sagt laut: „Ich bin da Kaisa, und ich will Knödl.“

      Ich frage Sie im Ernst: Kann man ihm das verdenken?

      Also, ich zumindest hab’ vollstes Verständnis für ihn. Wenn ich der Kaiser wär’ und meine Leibspeise wären Knödel, dann würd’ ich auch nicht einsehen, dass ich keine bekomme, aber stattdessen Rinderzunge im Eierkuchen und gebratenen Fischotter, was mir noch nie geschmeckt hat.

      Der Knödel-Ausspruch dient, wie alle anderen Ferdinand-Zitate, dazu, den Kaiser als Trottel hinzustellen. Ein bisserl was mag dran sein. Immerhin ist er aus der Ehe von Kaiser Franz II.47 und Maria Theresia, Prinzessin beider Sizilien, hervorgegangen: Das Paar war zweifach Cousin und Cousine ersten Grades. Ferdinand hat einen Wasserkopf gehabt, an Epilepsie und Rachitis gelitten, die wulstige Habsburger-Unterlippe hat über die Maßen sein Gesicht dominiert, sein Körperbau wird als unproportioniert beschrieben. Geistig ist er ein Spätentwickler gewesen.

      Aber ich bezweifle, dass er wirklich der Kretin gewesen ist, für den ihn bis heute alle ausgeben. Sogar bei Führungen durch die Kaiser-Franz-Joseph-Ausstellung in Schloss Schönbrunn im Jahr 2016 ist die Rede gewesen vom schwachsinnigen Ferdinand. Auf einem Bild ist er zu sehen gewesen, und bei der Führung hat der junge Mann, ganz bestimmt vorschriftsmäßig, die Grenzdebilität vom Ferdinand erwähnt. Doch irgendwie mag ich das nicht ganz glauben. Ich sag’ Ihnen was: Mir ist er richtig sympathisch, der Kaiser Ferdinand. Darum will ich Ihnen jetzt was über ihn erzählen, was Sie nicht oft zu hören kriegen.

      Der angeblich geistig zurückgebliebene Kaiser hat fließend die fünf Hauptsprachen des Reichs gesprochen, also Deutsch, Tschechisch, Italienisch, Ungarisch und Polnisch. Er hat Klavier gespielt, er ist geritten, hat getanzt und gefochten, er hat sich für Heraldik interessiert und für moderne Entwicklungen im Gartenbau und für Technik, und er soll eine auffällige Begabung fürs Zeichnen gehabt haben. Das scheint mir reichlich talentiert für einen kompletten Trottel, finden Sie nicht?

      Für mich hat er lediglich eine gewisse Entscheidungsschwäche gehabt. Dass man ihm die „Geheime Staatskonferenz“48 zur Seite gestellt hat, damit das Reich weiterhin quasi absolutistisch regiert werden kann, mag schon in Ordnung gewesen sein.

      Der Kaiser Ferdinand ist zweifellos auch etwas naiv gewesen. Sie kennen sicher den anderen Ausspruch von ihm – Sie wissen schon: Wie im 1848er-Jahr sogar im phlegmatischen Wien die Revolution ausgebrochen ist, hat man nicht verhindern können, dass der Kaiser einer wütenden Volksmenge ansichtig wird. Konsterniert fragt er seinen Kanzler Metternich: „Was machn denn all die vieln Leut da? De san so laut!“ Worauf Metternich antwortet: „Die machn eine Revolution, Majestät.“ Und Ferdinand entgeistert: „Ja, dürfen s denn das?“

      Jo, eh, das klingt deppert49. Aber überlegen Sie: Vom ersten Moment an, in dem er denken kann, kriegt der Ferdinand eine Erziehung, die darauf hinausläuft, dass er, und nur er ganz allein, entscheidet, was im Reich geschieht. Später wird man ihm erklärt haben, die Geheime Staatskonferenz habe die Zügel fest in der Hand. Und auf einmal ist der ohnedies entscheidungsschwache und ohnedies naive Ferdinand mit einer Situation konfrontiert, die er nicht befohlen hat, und die ihm sein allgegenwärtiger und allmächtiger Staatskanzler weder erklären kann, noch kann er ihm sagen, wie er sie in den Griff kriegt. „Ja, dürfen s denn des?“ ist sicher keine angemessen formulierte Reaktion, nur: So verblödet, wie sie immer dargestellt wird, scheint sie mir nicht.

      Aber vielleicht beschönige ich das, ich hab Ihnen ja gesagt: Ich mag den Ferdinand. Und zwar mag ich ihn, weil er ein wirklich gütiger Mensch gewesen ist und in seiner Güte durchaus besonnen. Darum bin ich überzeugt, dass die blutige Niederschlagung der nicht gedurften Revolution auf das Konto vom Metternich geht. Die Anwendung von tödlicher Gewalt passt nämlich nicht zum Ferdinand. Dazu werde ich Ihnen später noch was erzählen.

      Jetzt komm’ ich zuerst einmal dazu, wieso der Ferdinand „der Gütige“ genannt worden ist. Auf Wunsch seines Vaters Franz I. ist der Ferdinand am 28. September 1830 in Pressburg zum König von Ungarn gekrönt worden. Zu diesem Anlass haben ihm die ungarischen Stände ein Ehrengeschenk von 50.000 Dukaten überreicht. Eine Historikerin hat mir das einmal in Euro umgerechnet – rund 650.000 Euro wären das. Jedenfalls hat der Ferdinand das Geld nicht einfach unter den Menschen verteilt, sondern er hat mit dem einem Teil sehr umsichtig verarmte ungarische Gemeinden unterstützt und den anderen Teil hat er in die Pester Akademie fließen lassen. Ab da hat er den Beinamen „der Gütige“ gehabt.

      Natürlich steht überall, zu dieser Vorgehensweise habe ihm der gewiefte Metternich geraten, der habe gewusst, wie sich der Ferdinand bei den Ungarn beliebt macht. Mag sein. Andererseits – Sie wissen ja, dass der Ferdinand am 2. Dezember 1848 zugunsten seines Neffen Franz Joseph abgedankt hat. Mir gefallen die Worte, mit denen er das Kaisertum übergeben hat, weil sie völlig unpathetisch gewesen sind: „Gott segne dich, sei brav, es ist gern geschehen. Pfiat God50.“ Darauf habe ich aber gar nicht hinausgewollt, das ist mir nur gerade zur Abdankung eingefallen. Was ich eigentlich sagen hab’ wollen: Nach der Abdankung übernimmt der Ferdinand selbst, und zwar ohne Hilfestellung durch höchste Staatsbeamte, die Verwaltung seiner riesigen böhmischen Güter, die er vom Herzog von Reichstadt geerbt hat. Er macht sie zu Musterbetrieben und steigert die Erträge in schwindelerregende Höhen. Als sein kaiserlicher Neffe hingegen einen politischen und militärischen Fehlgriff nach dem anderen tut, spöttelt der Ferdinand: „Das hätt i aa no zsammbracht.“51 Und der soll „eine vollkommene Null, beinahe ein Idiot“ gewesen sein, wie Lord Palmerston angemerkt hat?

      Was freilich so gar nicht nach dem Ferdinand ausschaut, ist die Vertreibung der Tiroler Protestanten. 1837 haben 427 Frauen, Männer und Kinder das Zillertal verlassen müssen. Sie haben dem Protestantismus nicht abschwören wollen. Die Vertreibung ist gegen jedes Recht gewesen, weil Kaiser Joseph II. bereits im Jahr 1781 mit dem Toleranzpatent die freie Religionsausübung weitestgehend erlaubt hat. Aber einflussreiche katholische Kreise haben so lange gegen die Protestanten gehetzt, bis der Kaiser den Schlussstrich gezogen und die Ausweisung verfügt hat. Da hat der entscheidungsschwache Ferdinand also doch einmal eine Entscheidung getroffen, noch dazu eine, die so gar nicht zu seinem Denken passt? – Schauen Sie, da erkenne ich auch schon wieder die Handschrift vom Metternich, und zwar viel eher als bei Ferdinands Verwendung des Ehrengeschenks der ungarischen Stände. Die Verteilung des Ehrengeschenks passt so zum Wesen vom Ferdinand, wie die Vertreibung der Protestanten zu dem vom Metternich passt. Dem Metternich ist es dabei wahrscheinlich