Mit dem Zilk ist das nicht möglich gewesen. Der hat den Finger auf die blutende Wunde Wiens gedrückt, ganz fest, bis es richtig weh getan hat. Für einen Moment ist das Schlagobers weg gewesen und Essig und Salz sind zum Vorschein gekommen. Doch das ist eine notwendige Rosskur gewesen. Der Zilk hat völlig richtig gehandelt.
Der Zilk hat sich das erlauben können, weil er kein dogmatischer Linkspolitiker gewesen ist. Er hat immer seine Meinung gesagt. Das hat er auf eine unnachahmliche Weise getan. Der Zilk hat eine sehr charakteristische Stimme gehabt, einen Bariton mit etwas kehliger Färbung. Das ist unverwechselbar gewesen und hat sicher viel zu seiner Ausstrahlung beigetragen. Er hat immer in ganz klaren Sätzen gesprochen, um nichts herumgeredet. Wenn er etwas gesagt hat, dann hat man gewusst: So ist es. Der Zilk ist nicht zurückgewichen, nicht vor einer Stimmung in der Bevölkerung und nicht vor einer Doktrin der Partei. Das haben die Wiener gewusst. Deshalb sind sie auch dann noch auf seiner Seite gestanden, wenn seine Meinung nicht die ihre gewesen ist.
Sein klares Bekenntnis gegen den Nationalsozialismus und für ein harmonisches Zusammenleben aller Menschen hat dazu geführt, dass ihm der Attentäter Franz Fuchs64 eine Briefbombe geschickt hat. Der Zilk hat sie geöffnet. Sie hat ihm zwei Finger der linken Hand abgerissen und die Greiffunktion zerstört. Danach hat der Zilk die verstümmelte Hand stets unter einer auffälligen Hülle verborgen. Er hat das als mahnendes Zeichen gegen das benützt, wogegen er die ganze Zeit angerannt ist, nämlich gegen den Hass.
Nach seinem Rückzug als Bürgermeister ist der Zilk in den Medien bis zu seinem Tod präsent geblieben. Er ist einer von denen gewesen, von denen man glaubt, sie würden ein ewiges Leben haben und nicht älter werden. So ist das gewesen mit dem letzten Bürgermeisterkaiser von Wien.
Jetzt schulde ich Ihnen aber noch die andere bedeutende Entscheidung vom Zilk als Unterrichts- und Kunstminister. Er ist es gewesen, der den Claus Peymann65 als Direktor ans Wiener Burgtheater geholt hat, obwohl ihm, dem Zilk, der ganz genau weiß, wie die Österreicher, und der noch besser weiß, wie die Wiener denken, völlig klar gewesen ist, dass der Claus Peymann in Wien auf wenig Gegenliebe treffen wird. So ist es gekommen. Dem Peymann ist die Ablehnung von großen Teilen des Publikums und des Ensembles entgegengeschlagen. Ein – Sie verzeihen – Piefke als Direktor am bedeutendsten Wiener Theater, wann hat man das je erlebt? Ja, sicher, sein Vorläufer, der Achim Benning66, das war auch ein Deutscher, und schon dem haben die Wiener vorgeworfen, er würde das Burgtheater modern unterwandern. Aber der Benning ist ein Deutscher gewesen und der Peymann ein Piefke. Das ist eine Unterscheidung, die nur ein Wiener treffen kann. Sie kennen das Sprichwort, auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil? – Sehen Sie, wenn ein Deutscher ungefähr so verfährt, dann ist er für die Wiener ein Piefke. Ausgerechnet so einen hat der Zilk ans Wiener Burgtheater geholt. Und dann hat sich der Peymann in Wien verliebt, und Wien hat sich in den Peymann verliebt, und die, die ihn am meisten gehasst haben, kriegen heute feuchte Augen, wenn sie an die glorreiche Peymann-Zeit denken, die ihnen, genau genommen, der Helmut Zilk ermöglicht hat.
Irgendwie ist das schon passend, dass das Rathaus und das Burgtheater einander gegenüber liegen und das eine lächelnd zum anderen schaut und das andere schmunzelnd zurückgrüßt.
Apropos Kaiser nach der Kaiserzeit: Also der Kreisky – ich sage Ihnen ...
DER KREISKY
Jetzt muss ich Ihnen was erzählen, und zwar über den Bruno Kreisky.
Oder vielleicht sollte ich sagen: Über meine Großmutter und den Bruno Kreisky. Wobei sich meine Großmutter sicher wundern würde, in einer Geschichte mit dem Kreisky vorzukommen, in einem Atemzug quasi. Aber so ist es nun einmal gewesen.
Außerdem – schauen Sie, Geschichten über den Kreisky gibt es wie Sand am Donaustrand. Sammlungen von Kreisky-Aussprüchen und Kreisky-Zitaten und Kreisky-Anekdoten sind nicht nur zu Regierungs- und Lebzeiten herausgekommen, nein, bis heute können Sie solche Sammlungen in jeder Buchhandlung kaufen. Und Sie können sicher sein, dass in jedem Buch, das sich, ob ernst oder heiter, mit der österreichischen Nachkriegsgeschichte befasst, ein großes Kapitel dem Kreisky gewidmet ist.
Der Kreisky ist ja bis heute der populärste Bundeskanzler von Österreich. Sogar die jungen Leut’, die geboren sind, wie der Kreisky längst nicht mehr Bundeskanzler gewesen ist, verbinden etwas mit ihm. Einer von ihnen hat einmal zu mir gesagt: „Sie haben Glück, Sie haben noch den Kreisky erlebt.“
Obwohl der Kreisky ein Sozialist gewesen ist, und zwar ein richtiger, hat man ihn im Spaß mit Titeln ganz und gar monarchischen Zuschnitts bezeichnet: Er war Bruno der Sonnenkönig, der Sonnenkaiser und der Bundeskaiser. Nicht nur wegen seiner langen Regierungszeit67, sondern auch, weil er mit einer absoluten Mehrheit für die SPÖ68 regiert hat, haben viele wirklich so ein bisserl das Gefühl einer wiedererstandenen Monarchie gehabt.
Wie das so ist: An großen Persönlichkeiten scheiden sich die Geister. Den Kreisky hat man gemocht oder nicht.
Jetzt kommt meine Großmutter ins Spiel: Sie hat den Kreisky nicht gemocht. Wen meine Großmutter gemocht hat, das ist der Kaiser gewesen, der richtige, der Franz Joseph. Der Vater meiner Großmutter ist Hofschneider gewesen, er hat zwar nicht für den Kaiser selbst gearbeitet, aber für Hofbedienstete und einmal für den Grafen von Paar. Das verbindet. Für meine Großmutter hätte Österreich mit Fug und Recht immer noch ein Kaiserreich sein müssen, einfach, weil es ihrer Auffassung nach so richtig und gottgewollt gewesen wäre. Es hat ihr in der Seele wehgetan, dass ein Roter wie der Bruno Kreisky die Geschicke Österreichs lenkt. Ihrer Meinung nach hätte dazu einzig und allein der Otto von Habsburg das Recht gehabt, und nicht nur das Recht, sondern, auch das als einziger, die Befähigung. Meine Mutter und ich hingegen, wir haben den Kreisky gemocht, und gleichzeitig haben wir, weil wir den Kreisky so gemocht haben, die Großmutter verstanden, weil für uns der Kreisky halt ein bisserl das gewesen ist, was für sie der Kaiser gewesen ist.
Eines Jahres, 1978 ist es gewesen, ist knapp vor Weihnachten ein Karpfen in die Familie gekommen.
Mein Großvater ist schon lange gestorben gewesen, aber ein Freund von ihm, den wir Onkel Paul genannt haben, obwohl er kein Verwandter gewesen ist, hat mit meiner Großmutter lose Kontakt gehalten. Der Onkel Paul ist ein leidenschaftlicher Angler gewesen. Ein paar Tage vor Weihnachten hat er, ob es ganz legal war, will ich nicht weiter überlegen, einen kapitalen Karpfen aus der Alten Donau gezogen und ihn, lebend, meiner Großmutter geschenkt. Wahrscheinlich hat der Onkel Hans, der zu Weihnachten immer zu seinen Verwandten nach Kufstein gefahren ist, nicht gewusst, was sonst er mit dem Karpfen anfangen soll. Deshalb hat er ihn in einem großen mit Wasser gefüllten Kübel meiner Großmutter gebracht.
Der Karpfen ist groß gewesen und fleischig und, ganz nach Karpfenart, von gutmütigem Aussehen. Der Karpfen hat bei uns in der Badewanne eine neue Heimstatt gefunden, zumindest für drei Tage, denn am 24. Dezember sollte ihm die Stunde schlagen. Da sollte er sein Ende als Weihnachtsmahl finden.
Kaum schwimmt der Karpfen in der