Kapitän in zwei Welten. Hans-Hermann Diestel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Hermann Diestel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783960085966
Скачать книгу
des Schiffes ist der Wille des Vorgesetzten oberstes Gesetz! Also reinste Paschawirtschaft, ganz wie früher … Das sind rechtliche Zustände, wie sie rückständiger, um nicht zu sagen barbarischer, nicht gedacht werden können. Da kann sicher von dem berühmten Schlagwort von den „vollendeten Rechtsgarantien“ keine Rede sein …

      Die HANSA interpretiert den Abschnitt so: „Wer die tatsächlichen Verhältnisse kennt, wer die hohen Lasten unserer sozialpolitischen Gesetzgebung zu tragen hat: die deutschen Reeder; wer unter der Renitenz unserer aufgehetzten und angestachelten Schiffsleute zu leiden hat: die deutschen Kapitäne und Schiffsoffiziere; sie könnten beim Lesen des vorstehenden Ergusses glauben, Jemand im Deliriumschauer sprechen zu hören …“

      In der DDR wurde die Stellung des Kapitäns folgendermaßen eingeschätzt (J. Dutsch, Neue Tendenzen in der Rechtsstellung des westdeutschen Kapitäns, Seeverkehr 9/​62): „Der Schiffsführer hatte für die kapitalistische Seehandelsschiffahrt seit ihrem Entstehen eine erstrangige Bedeutung, besonders infolge der Tatsache, daß das Schiff für längere Zeit sowohl der unmittelbaren Eingriffsmöglichkeit des Reeders als auch des kapitalistischen Staates entrückt ist. Darum ist der rechtlichen Ausgestaltung der Stellung des Kapitäns in sämtlichen schiffahrtstreibenden Ländern und in allen Etappen der kapitalistischen Entwicklung hohe Aufmerksamkeit gewidmet worden.“

      1. Seemannsordnung der DDR von 1953, enthalten im ersten Seefahrtsbuch des Autors

      In der DDR wurde am 16. April 1953 die erste Seemannsordnung erlassen.

      Die Rechtsgrundlagen für die Funktion des Kapitäns haben sich über Jahrhunderte evolutionär entwickelt. Es gab keine großen Sprünge. Dass aus dem Schiffer der Kapitän wurde, hat die Grundlagen seiner Arbeit nicht verändert. Das war eine Schönheitsoperation, mehr nicht. Es gab in der Entwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg eine große Stetigkeit und eine solide Tradition in diesem Berufsstand. Wesentlicher Bestandteil für die Evolution in der Disziplinargewalt des Schiffsführers war, dass seine Möglichkeiten zu bestrafen immer weiter verringert wurden, bis ihm die Disziplinargewalt ganz entzogen wurde. Diese Entwicklung verlief bis heute unter den verschiedenen Flaggen nicht einheitlich. Während zum Beispiel ein deutscher Kapitän schon seit der ersten Seemannsordnung des Kaiserreiches keine Geldstrafe mehr aussprechen konnte, berichteten mir ausländische Besatzungsmitglieder, dass rumänische und kroatische Kapitäne dies durchaus noch im 21. Jahrhundert unter fremder Flagge taten. Im Seemannsgesetz der Bundesrepublik von 1957 konnte der Kapitän noch eine außerordentliche Kündigung aussprechen. Das lässt das Seearbeitsgesetz von 2013 nicht mehr zu. Eine außerordentliche Kündigung kann nur noch der Reeder veranlassen.

      Die Seemannsordnung der DDR von 1953 gestattete dem Kapitän, in Abstimmung mit der Gewerkschaftsleitung eine Strafe in Höhe von 300 Mark zu erlassen. Als Kapitän des Typ-IV-Schiffes SCHWERIN habe ich 1974 meinem Ersten Offizier wegen maßlosen Alkoholmissbrauchs erst einen Verweis und dann einen strengen Verweis ausgesprochen. Kündigen konnte ich ihm nicht mehr, aber die Verweise waren die Voraussetzung dafür, dass seine Seefahrt beendet werden konnte.

      Die Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Kapitäns wurden von einer Generation mehr oder weniger entsprechend den erwähnten Gesetzen, Regelungen und der Überlieferung zur nächsten übergeben. Allerdings hatte die Schifffahrt große Mühe, den beachtenswerten Worten von Thomas Morus zu folgen, der gesagt hat: Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme. Das möchte ich mit einem Bogen, der von James Cook bis Franceso Schettino (COSTA CONCORDIA) reicht, verdeutlichen. Die Schifffahrt hat einzigartige Männer wie James Cook hervorgebracht. Ihm folgten Kapitäne wie Richard Woodget, Robert Hilgendorf und Gustav Schröder, die hervorragende Seeleute und exzellente Führer der ihnen anvertrauten Besatzungen in schwierigen Situationen waren.

      Andere, wie William Bligh (BOUNTY), waren sehr gute Seeleute, versagten aber als Führer ihrer Besatzungen. Leider gab es aber auch solche, die weder gute Seeleute noch gute Führer ihrer Besatzungen waren. Zu ihnen möchte ich die Kapitäne Wallace und Bruce von der CUTTY SARK, James P. Barker von der BRITISH ISLES sowie Johannes Diebitsch von der PAMIR und Siegbert Rennecke von der BÖHLEN zählen. In diese Phalanx hat sich der italienische Kapitän Franceso Schettino nahtlos eingereiht. Darüber hinaus gab es zahlreiche Kapitäne, deren Rolle sehr umstritten ist. Zu ihnen gehört zweifellos Kapitän Edward J. Smith von der TITANIC. Mit einem Vergleich dieser Kapitäne in den Bereichen Seemannschaft und Führungstätigkeit möchte ich dem Leser aufzeigen, wo die Probleme und Schwierigkeiten für die Kapitäne lagen und wie leicht sie versagen konnten. In vielen Situationen benötigten sie exzellentes Wissen, lange und große Erfahrung sowie eine außergewöhnliche Entschlusskraft, um das Schiff oder zumindest die Menschen an Bord zu retten.

      Für mich ist James Cook der Urvater des modernen Kapitäns. Er durchlief die harte Schule der Kohlesegler an der englischen Ostküste und wählte, als er Kapitän auf einem dieser Collier werden konnte, für seine weitere Laufbahn die Navy. Ein nur schwer nachzuvollziehender Gedanke, der von Mut, Entschlusskraft und Selbstbewusstsein zeugt. Ohne diesen Entschluss hätte es nie den Cook gegeben, den wir ohne die geringste Einschränkung bewundern dürfen. Bei der Navy nutzte er jede Chance, sich zu bilden, was ihm die Möglichkeit gab, die halbe Welt zu vermessen. Eine Haltung, die ich bei der Masse der heutigen Kapitäne vermisse. Selbst die sehr guten Bücher von Alan Villiers (Captain Cook The Seamen’s Seaman) und Bill Finnis (Captain James Cook Seaman and Scientist) beantworten nicht meine Frage, wie James Cook zu dem Kapitän wurde, der sich so außergewöhnlich um seine Seeleute kümmerte.

      Kapitän, Entdecker und Wissenschaftler James Cook

      Es ist sehr gut nachzuvollziehen, wie er der Seemann par excellence wurde und auch wie er, ungeachtet seiner rudimentären Schulbildung, ein Wissenschaftler wurde. Woher kam aber seine soziale Verantwortung in einer Zeit, in der das Leben eines Seemanns keinen Pfifferling wert war? Es traf Cook zutiefst, dass er auf seiner ersten Forschungsreise 38 Seeleute verlor. Er setzte sich damit auseinander, und von der zweiten Südseereise (1772 – 1775) kehrten nur vier Seeleute nicht mit ihm zurück. Im Gegensatz zu Cook verlor Commodore Anson 626 von 961 Mann. Cooks Bilanz ist einzigartig und hätte jeden Kapitän dazu bewegen müssen, sich mit dessen Arbeitsweise auseinanderzusetzen und ihm zu folgen. Das taten sie aber nicht. Über einhundert Jahre später hatte sich die Situation für die meisten Seeleute der Handelsmarine nicht grundsätzlich verbessert. Das beweist ein Vergleich der Reisen von Cook mit einer von Kapitän James P. Barker, der die BRITISH ISLES führte. Am 11. Juli 1905 verließ der 1884 als Vollschiff (2 287 Registertonnen) gebaute und mit 3 600 t walisischer Kohle beladene Segler Port Talbot. Am gleichen Tag verließ die deutsche SUSANNA den gleichen Hafen zu ihrer berühmten Reise. Beide waren für Chile bestimmt. Die Besatzung der BRITISH ISLES bestand aus Erstem und Zweitem Offizier, 1 Segelmacher, 1 Zimmermann, 1 Stewart, 1 Koch, 20 Matrosen und 4 Kadetten. Für ein gutes Segeln des Schiffes, vor allem hart am Wind, was bei Kap Horn von großer Bedeutung ist, wären bis zu 40 Matrosen nötig gewesen. Da die Segelschifffahrt schon einige Zeit ihren Höhepunkt überschritten hatte, waren die Besatzungen ohne Rücksicht auf die seemännischen Erfordernisse gnadenlos reduziert worden. Die Seeleute hatten in früheren Zeiten für die britischen Schiffe das Motto Hunger und Muße gewählt, denn auf ihnen gab es große Besatzungen, aber wenig zu essen. Das mit der Muße stimmte nicht mehr, der Hunger aber war geblieben. Noch schlimmer war jedoch, dass Kapitän Barker die Umrundung von Kap Horn mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Verluste erzwingen wollte. Am 7. August hatte der Segler Staten Island nach 57 Tagen quer. Am Morgen des nächsten Tages passierte die BRITISH ISLES Kap Horn. Sie hatte bis dahin eine Dampferstrecke von 7 400 sm zurückgelegt, war aber zwischen 8 500 und 9 000 sm gesegelt. Am Abend musste sie unter Untermarssegeln und einem Stagsegel auf SSW-Kurs und Stb.-Hals beidrehen. Dadurch trieb sie jeden Tag 20 bis 50 sm zurück. Der 14. August war ein schwarzer Tag für die Seeleute, denn der Matrose Davidson fiel von der Rah über Bord, dem Matrosen West wurde der