Rostock, im März 2016
VORWORT
Der Kapitän eines Handelsschiffes ist eine der berühmtesten, mit außerordentlichem Renommee versehenen, aber auch eine der umstrittensten Funktionen, die es in allen Gesellschaftsordnungen gegeben hat. Das verdeutlicht die Würdigung ihrer berühmtesten Vertreter in Wort und Bild. Gedacht sei dabei zum Beispiel an James Cook, William Bligh (BOUNTY), Richard Woodget (CUTTY SARK), Edward J. Smith (TITANIC), Robert Hilgendorf (PO-TOSI), Gustav Schröder (ST. LOUIS) und Francesco Schettino (COSTA CONCORDIA). Niemand kann dieses ungeheure Spannungsfeld mit größerem Humor darstellen als die Briten. Ihr Poster „Das ist unser Kapitän – Und das ist, wie er gesehen wird“ zeigt die ganze Vielfalt von Meinungen zum Schiffsführer. Schon als Jugendlicher habe ich begonnen, Materialien zu sammeln, die die Seefahrt betreffen. Mein besonderes Interesse fanden dabei Bücher, die Leben und Arbeit des Kapitäns beschreiben. Zu ihnen gehören:
- Schmidt, Fred – Kapitäne, MCMLIX, Bei Hans Dulk in Hamburg,
- Reinemuth, Rolf – Master next God, Köhler, Herford, 1979,
- Lubbock, Basil – The Log of the „Cutty Sark“, Brown, Son & Ferguson, Glasgow, 1970,
- Jones, William H.S. – Sturmverweht, Die Saga des Vollschiffes „British Isles“, Verlag die Brigantine, Hamburg, 1968,
- Burmeister, Heinz – Aus dem Leben des Kapitäns Gustav Schröder, Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven, Bremerhaven, 1991,
- Welke, Ulrich – Der Kapitän, Die Erfindung einer Herrschaftsform, Westfälisches Dampfboot, Münster 1997 und
- Witt, Jann Markus – Master next God?, Deutsches Schiffahrtsmuseum, Bremerhaven, Convent Verlag, Hamburg, 2001.
Die Bücher von Schmidt und Reinemuth haben aufgrund der von diesen Autoren gewählten Darstellung der Arbeit und des Lebens der Kapitäne nie meine Zustimmung gefunden. Während die Briten die Funktion Kapitän sehr sachlich und faktenreich beschreiben, konnten deutsche Autoren durchaus in eine nationalistische sowie romantisch-süßliche Darstellung abgleiten. Besonders unangenehm ist mir das Buch von Schmidt in Erinnerung. Schon als Nautischer Offizier konnte ich beobachten, dass es keinem Kapitän leichtfiel, die mit seiner Funktion verbundenen, außerordentlich vielfältigen Aufgaben fehlerfrei zu bewältigen, die mit der Position verbundenen Probleme im Zusammenleben an Bord menschlich sauber zu lösen und dabei korrekt, diszipliniert, verlässlich und gerecht zu sein. Das Wort „vorbildlich“ sollte auch dazugehören, aber wer kann schon von sich sagen, dass er seinen Dienst immer vorbildlich versehen hat? Wie schwer das ist, habe ich als Kapitän oft genug feststellen müssen. Erwarten darf man aber von einem Kapitän, dass er dies mit Ausdauer und Konsequenz anstrebt. Welke kann im Gegensatz zu früheren deutschen Autoren eine Verherrlichung der Funktion Kapitän bestimmt nicht vorgeworfen werden. Ich folge Welke nicht, der zu dem Ergebnis kam, dass es sowohl im ökonomischen als auch im nautischen Bereich auf den Schiffen eine genossenschaftliche Organisation gegeben hätte und dass die Kapitänsherrschaft eine Innnovation des Industriezeitalters ist. Schon bevor Witts Buch erschien, in dem Witt Welke fundiert widerspricht, war ich aus einem anderen Gesichtswinkel zu der Auffassung gekommen, dass Welke nicht recht hat. Natürlich muss der Kapitän bei der Führung des Schiffes die Gegebenheiten und Vorgaben der jeweiligen Gesellschaftsordnung berücksichtigen, aber die Führung eines Schiffes ist in allererster Linie immer noch eine seemännische Aufgabe. Das haben auch die Verantwortlichen von Partei und Regierung der DDR sowie die Leitung des Kombinates für Seeverkehr und Hafenwirtschaft in der DDR begreifen müssen. Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts ist die Kombinatsleitung an diesen Ausgangspunkt für die Aufgabenstellung an die Rostocker Kapitäne zurückgekehrt. In den letzten Reden und Beiträgen von Generaldirektor Kapitän Dr. Artur Maul wurde klar, dass der Spruch „Es ist selbstverständlich, dass der Kapitän das Schiff von A nach B führt“ albern und oberflächlich ist. Begriffe wie „Disziplin“, „Tradition“ und „Verantwortungsbewusstsein“ rückten wieder an die erste Stelle.
Generaldirektor Kapitän Dr. Artur Maul im Gespräch mit dem Hamburger Senator für Wirtschaft und Verkehr Helmuth Kern
Dass die Kapitäne in der DDR eine außerordentlich starke Stellung hatten, verdankten sie einem der Klassiker des Marxismus. Friedrich Engels ging nicht von einer imaginären Herrschaftsform aus, sondern stellte, ohne dieses Wort je zu benutzen, die Seemannschaft in den Vordergrund. Dazu später mehr. Da die Rostocker Kapitäne nicht aus dem Nichts kamen, ist es notwendig, beim Leser das Verständnis für die historische Entwicklung dieser Funktion zu wecken. Ganz besonders wichtig ist dabei die Seefahrt des Dritten Reiches. Leider habe ich zu spät damit begonnen, Zeugen zu dieser Zeit zu befragen. Deshalb waren die Aussagen von Kapitän Karl-Heinz „Atze“ Seidler und Dr. Manfred Hessel unverzichtbar. Über Kapitäne wie Beykirch, Zinn, Schickedanz, Just usw. wurden die Traditionen der deutschen Schifffahrt von vor 1945 in die DSR hineingetragen. „Sozialistische“ Seeleute gab es, als die Deutsche Seereederei Rostock gegründet wurde, nicht. Um unseren Weg nach 1990 zu verstehen, konnte ich auch auf eine Beschreibung der Seefahrt der BRD nicht verzichten.
Kapitän Karl-Heinz Seidler
Rechtsgrundlagen für die Funktion Kapitän
Die rechtliche Ausgestaltung der Funktion Kapitän über Jahrhunderte ist ein klassisches Beispiel für die Entwicklung der Arbeitsteilung in einem sehr speziellen Beruf, der unter außergewöhnlich schwierigen Bedingungen ausgeübt werden musste. Zu Beginn des Seeverkehrs waren die Fahrzeuge und die verschifften Gütermengen klein. Der Besitzer des Schiffes war auch der Schiffsführer. Unter diesen Bedingungen gab es nur wenige Regeln. Sie beinhalteten vor allem Bestimmungen zur Abwicklung der Folgen einer Kollision. Mit größer werdenden Schiffen änderte sich dies. Ab dem 12. Jahrhundert war das Schiff in der Regel im Besitz mehrerer Personen, die auch ihre Güter mit dem Schiff transportierten. Zu ihnen gehörte der Schiffsführer. Die Reise war ein Gemeinschaftsunternehmen. Bei wichtigen Entscheidungen kamen die Beteiligten, die die Besatzung bildeten, zu einem Schiffsrat zusammen. Der Schiffsführer war der Primus inter Pares dieser Gesellschaft. Es wurden Regeln zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin an Bord sowie zur Organisation der Reise notwendig. So heißt es in den Rôles d’Oléron zum Beispiel, dass der Schiffsführer die Schiffsgesellschaft, nachdem sie auf gutes Wetter zum Auslaufen gewartet habe und dies nun nach seiner Meinung gekommen sei, befragen sollte, ob sie auslaufen wolle. Er sollte ihrem Rat folgen. Wenn er das nicht tat und das Schiff erlitt einen Schaden, musste er für ihn einstehen (Regel II). Auch bei einem beabsichtigten Ladungswurf sollte er seine Mitfahrer befragen, konnte sich aber auch in diesem Fall gegen ihre Auffassung entscheiden (Regel VIII). Der Schiffsführer war nach Regel XII der Richter der Seeleute auf See. Die Regel legte fest, wie der Schiffsführer einen Streit zu schlichten und welche Rechte und Pflichten er hatte sowie welche Geldstrafen er erlassen konnte. Seine herausgehobene Stellung wurde auch darin deutlich, dass derjenige, der den Schiffsführer angriff, seine Hand verlieren konnte.
Die WISSEMARA als Nachbau einer hanseatischen Kogge aus dem 14. Jahrhundert
Eine Weiterentwicklung der Regeln wurde erforderlich, als sich die Interessen der Eigentümer der Schiffe und der Ladung auseinanderentwickelten. Durch die sich verstärkende Arbeitsteilung blieben die Ladungseigner zunehmend an Land und organisierten von ihren Kontoren aus ihren Handel. Eine Differenzierung vollzog sich auch bei den Schiffsbesitzern durch die ständige Vergrößerung der Schiffe. Der Schiffsführer musste nicht mehr Mitbesitzer des von ihm geführten Fahrzeuges sein. An der Küste von Mecklenburg und Pommern war dieser Zustand endgültig mit dem Verschwinden der Partenreederei