Die erforderlichen Regeln entwickelten sich regional. Beispiele sind dafür die Rôles d’Oléron, das Seerecht von Hamburg, Visby, Riga usw.
Silhouette der Hansestadt Riga
Aus den Seerechtsvorschriften einzelner Städte entstand das hansische Seerecht (1591 und 1614), das für die Seeleute der nordischen Städte die erforderlichen Festlegungen traf. Ob die einzelnen Städte sich danach richteten, entschieden sie selbst. Im Mittelalter entwickelte sich kein allgemeingültiges Seerecht. Das hansische Seerecht blieb, ungeachtet des Niedergangs der Hanse, bis zur Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches maßgebend für den Seetransport der norddeutschen Staaten. Witt1 weist auf eine Besonderheit des Seerechts mit folgenden Worten hin: Hatten die Seerechtsverordnungen des 16. bis 18. Jahrhunderts alle relevanten Bereiche, also die handels- und vertragsrechtlichen ebenso wie die disziplinarischen und arbeitsrechtlichen Bestimmungen ohne Unterscheidung in einem einzigen Rechtstext zusammengefasst, wurde nun auch im Seerecht zwischen öffentlich- und zivilrechtlichen Aspekten unterschieden. Daraus entstanden eine ganze Reihe von Problemen für die Funktion Kapitän, da sie im Mittelpunkt aller rechtlichen Fragen stand.
Die HANSEKOGGE und LISA VON LÜBECK vor der AIDAMAR
Schon in den Rôles d’Oléron stehen einige Fragen im Vordergrund, die dies nach meiner Auffassung bis heute tun sollten. Das gilt sowohl für die Kapitäne als auch für die Schifffahrtsunternehmen. Der Ausgangspunkt für viele Festlegungen in den Rôles d’Oléron war die Seemannschaft. Wann darf das Schiff zum Beispiel auslaufen? Zu den meisten Fragen und Problemen fanden sich im Seerecht der verschiedenen Städte übereinstimmende Regeln. Es gab aber auch Unterschiede. So kam Friedland (siehe Frankot2) zu der Auffassung, dass das Hamburger Seerecht weniger „besatzungsfreundlich“ als die Rôles d’Oléron war. Es war eher den Befrachtern und der Ladung wohlgesonnen. Auf alle Fälle sind im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in mehreren norddeutschen Hafenstädten, wie in Bremen und Lübeck, Fälle behandelt worden, in denen Besatzungsmitglieder undiszipliniert waren oder dem Kapitän gegenüber sogar handgreiflich wurden. Das fand nicht die Zustimmung der Reeder, die dann mit Anzeigen darauf reagierten. Reeder und Behörden sahen zu keinem Zeitpunkt die Organisation an Bord des Schiffes als eine genossenschaftliche an. Für die Führung des Schiffes hat es an Bord immer klare Strukturen gegeben.
Die LISA VON LÜBECK, eine Rekonstruktion eines Kraweels aus dem 15. Jahrhundert
Der nächste sehr wichtige Schritt für die Schifffahrt der norddeutschen Staaten war die Formulierung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches (ADHGB), das 1861 von der Versammlung des Deutschen Bundes beschlossen wurde. Vorarbeiten zu diesem Gesetz gehen bis auf das Jahr 1849 zurück. Dem ADHGB folgte das am 10. Mai 1897 erlassene Handelsgesetzbuch (HGB). Das HGB gilt immer noch, auch wenn es wiederholt überarbeitet wurde. Starken Einfluss übt inzwischen die Europäische Union mit ihrer Rechtsetzung aus. Hingewiesen werden soll nur auf einige allgemeine, den Kapitän betreffende Entwicklungslinien vom ADHGB zum HGB der Gegenwart. Offensichtlich ist, dass mit der Seemannschaft in Verbindung stehende Fragen immer weniger Beachtung finden. Das betrifft zum Beispiel die Nachweisführung. Allein für die Führung des Tagebuches als entscheidendes Mittel der Nachweisführung gab es im ADHGB vier Artikel (486, 487, 488 und 489).
Der Artikel 487 legte fest:
Von Tag zu Tag sind in das Journal einzutragen:
die Beschaffenheit von Wind und Wetter; die von dem Schiffe gehaltenen Kurse und zurückgelegten Distanzen; die ermittelte Breite und Länge; der Wasserstand bei den Pumpen.
Ferner sind in das Journal einzutragen: die durch das Loth ermittelte Wassertiefe; jedes Annehmen eines Lootsen und die Zeit seiner Ankunft und seines Abganges; die Veränderungen im Personal der Schiffsbesatzung; die im Schiffsrath gefaßten Beschlüsse; alle Unfälle, welche dem Schiff oder der Ladung zustoßen, und die Beschreibung derselben. Auch die auf dem Schiffe begangenen strafbaren Handlungen und die verhängten Disziplinarstrafen sowie die vorgekommenen Geburts- und Sterbefälle sind in das Journal einzutragen. Die Eintragungen müssen, soweit die Umstände nicht hindern, täglich geschehen. Das Journal ist von dem Schiffer und dem Steuermann zu unterschreiben.
Leider wird eine seemännisch korrekte Nachweisführung von Seeleuten oft mit dem Begriff „Bürokratie“ verunglimpft. Seit Jahrhunderten haben Reeder und Seefahrtschulen immer wieder auf die Bedeutung der Nachweisführung für das Unternehmen und für den Kapitän selbst hingewiesen.
Zur Stellung des Kapitäns sagt der Artikel 528 des ADHGB: Zur „Schiffsmannschaft“ werden auch die Schiffsoffiziere mit Ausschluß des Schiffers gerechnet; desgleichen ist unter „Schiffsmann“ auch jeder Schiffsoffizier mit Ausnahme des Schiffers zu verstehen.
Deckblatt der Seemannsordnung des Deutschen Kaiserreiches
In Paragraph 481 des gerade reformierten HGB heißt es dagegen: Zur Schiffsbesatzung werden gerechnet der Kapitän, die Schiffsoffiziere, die Schiffsmannschaft sowie alle übrigen auf dem Schiff angestellten Personen.
Erheblichen Einfluss auf die Stellung des Kapitäns an Bord hatte die Seemannsordnung. Am 27. Dezember 1872 trat die erste Seemannsordnung des neuen Deutschen Reiches in Kraft. Der vierte (Disziplinar-Bestimmungen) und der fünfte Abschnitt (Strafbestimmungen) waren deshalb von besonderer Bedeutung. In Paragraph 72 war festgelegt: Der Schiffsmann ist der Disziplinargewalt des Schiffers unterworfen. Der Paragraph 73 legte die wesentlichen Pflichten des Seemanns folgendermaßen fest: Der Schiffsmann ist verpflichtet, sich stets nüchtern zu halten und gegen Jedermann ein angemessenes und friedfertiges Betragen zu beobachten. Dem Schiffer und seinen sonstigen Vorgesetzten hat er mit Achtung zu begegnen und ihren dienstlichen Befehlen unweigerlich Folge zu leisten. In Paragraph 79 war formuliert, dass der Kapitän zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit den herkömmlichen Dienst erschweren und dass er auf höchstens drei Tage die Kost schmälern durfte. Geldbußen, körperliche Züchtigung und Einsperren standen ihm nicht zur Verfügung. Bei Widersetzlichkeit oder bei beharrlichem Ungehorsam durfte er alle erforderlichen Mittel anwenden. Notfalls durfte er den Seemann fesseln lassen. Der fünfte Abschnitt legte eine ganze Reihe von Strafen fest, die die Behörden erlassen konnten. Diese Seemannsordnung wurde 1902 überarbeitet, wobei die öffentlich-rechtlichen Befugnisse des Kapitäns unverändert blieben. Diese Seemannsordnung war formell bis 1957 gültig, als die Bundesrepublik das Seegesetz erließ, das am 1. 4. 1958 in Kraft trat. Es schaffte die Disziplinargewalt des Kapitäns ab. An deren Stelle traten polizeiähnliche Befugnisse, die im fünften Abschnitt (Ordnung an Bord) vor allem in Paragraph 106 ihren Niederschlag fanden. In ihm hieß es:
(1) Der Kapitän ist der Vorgesetzte aller Besatzungsmitglieder (§ 3) und der sonstigen an Bord tätigen Personen (§ 7).
(2) Der Kapitän hat für die Erhaltung der Ordnung und Sicherheit an Bord zu sorgen …
(3) Droht Mensch oder dem Schiff eine unmittelbare Gefahr, so kann der Kapitän die zur Abwendung der Gefahr gegebenen Anordnungen notfalls mit den erforderlichen Zwangsmitteln durchsetzen; die vorübergehende Festnahme ist zulässig …
Die Seemannsordnung von 1902 hat nach meiner Auffassung für den Dienstbetrieb an Bord keine wesentlichen Veränderungen gebracht. In der HANSA von September 1905 wird die unterschiedliche Wertung der Seemannsordnung deutlich. Anzumerken ist, dass die HANSA damals ohne Abstriche die Interessen der Reeder vertrat. Die Zeitung zitiert folgenden Abschnitt aus dem Bericht des Vorstandes des Seemannsverbandes: Ein „Urteil“ über die 1903er Seemannsordnung ist bei jedem Seeamt verschieden, wie auch das Verfahren vor den Seemannämtern in den meisten Fällen ganz der Laune des Vorsitzenden angepasst