Merkwürdigerweise schaute Melanie plötzlich zur Seite und Sebastian fiel auf, dass der alte Mann immer noch da saß, mittlerweile mit der x-ten Tasse Kaffee und nun ohne Zeitung. Und dann nickte sie dem Gast auch noch zu, der sich darauf erhob und die paar Schritte zu ihrem Tisch herüberkam.
Altersfurchen in einem gebräunten Endsechziger-Gesicht, schlohweiße Haare, zum Zopf gebunden, was ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh, konterkariert von einem nichtssagenden schwarzen Anzug mitsamt weißem Hemd, komplettiert durch einfache schwarze Lederschuhe. Der erste Eindruck war der eines Mannes, der sich im Alter nicht entscheiden konnte, ob er Altersgediegenheit oder den dritten Frühling ausstrahlen wollte. Dann lächelte der Mann und sein strahlend weißes Gebiss lieferte sich einen bizarren Farbwettstreit mit der unnatürlich gebräunten Haut.
»Ja?« Sebastian weigerte sich aufzustehen und schaute den Ankömmling von der Sitzbank aus an. Sein Herz machte einen irrationalen Satz, als der sich auch noch bückte, um Melanie einen Begrüßungskuss auf die Wange zu hauchen. Dann wandte sich der Alte ihm zu.
»Gestatten, Weihhausen. Alfred Weihhausen«, stellte er sich mit einer Bassstimme vor, die einem Soulsänger zur Ehre gereicht hätte. Die Hautfarbe hatte er jedenfalls, wenn auch deutlich künstlicher.
Sebastians Manieren griffen und er stand auf, schüttelte seinem Gegenüber die Hand.
»Sebastian Born.« Dann setzte er hinzu: »Darf ich fragen, warum Sie sich zu unserem Essen gesellen?«
»Sie dürfen, Herr Born, Sie dürfen.« Weihhausen zog sich einen Stuhl vom Nachbartisch herüber und setzte sich mitten in den Gang, an den Kopf des Nischentisches.
»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen die Möglichkeit verschaffen könnte, all das zu verwirklichen, wovon Sie Frau Griesinger heute Abend so euphorisch berichtet haben?«
Sebastian legte unwillkürlich den Kopf leicht schief, wie er es immer tat, wenn er etwas Unglaubwürdiges präsentiert bekam.
»Natürlich. Sicher.« Die Ironie tropfte förmlich auf den Tisch.
Weihhausen lachte laut auf.
»Na wenigstens sind Sie ehrlich. Und unter uns, ich würde mir auch nicht einfach so glauben.« Dann wurde er schlagartig ernst, seine Augen verengten sich. »Aber lassen Sie mich eines klarstellen. Ich meine das absolut ernst. Todernst.«
Sebastian schluckte und schaute zu Melanie herüber, die sich mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck zurückgelehnt hatte und ihm zunickte. Er war am Zug, es war allein sein Spiel.
»Okay, dann erzählen Sie mir mal so viele Details, dass ich Ihnen überhaupt Glauben schenken kann.«
Sein Gegenüber runzelte die Stirn, entschloss sich dann aber doch, zu sprechen. »Also. Als Vorgesetzter von Frau Griesinger spreche ich für ein internationales Forschungskonsortium, das unter der Flagge der UN nach Mitteln und Wegen forscht, die globale Erwärmung aufzuhalten.«
Sebastian konnte nicht anders, er schlug mit der Hand auf den Tisch und sein lautes Lachen übertönte jegliche andere Geräusche im Restaurant.
»Die UN?« Er hielt sich den Bauch vor Lachen. »Dieser Bürokratenverein, der selbst über die Farbe der Büroklammern Einstimmigkeit erzielen muss?«
»Nun, drücken wir es so aus, Herr Born. Es gibt nicht ›die UN‹. Es gibt verschiedene Ländercliquen, die mal mehr, mal weniger gut zusammenarbeiten. Und eine sehr einflussreiche Länderclique hat sich entschieden, Nägel mit Köpfen zu machen.«
Sebastian beugte sich nach vorne. »Und die Finanzierung?«
Es blitzte voller Freude in den Augen des alten Mannes. »Ist gesichert. Glauben Sie mir, die UN hat schwarze Kassen, die ausreichend gefüllt sind, um ein derartiges Projekt durchzuziehen.«
»Über welche Anlagen verfügen Sie?«
»Wir sind gerade dabei, die erste gemeinsame Anlage fertigzustellen. Wir haben uns absichtlich dafür entschieden, eine neue, ganz nach den Wünschen der Forscher aus dem Boden zu stampfen, anstatt auf bestehenden Strukturen aufzusetzen. Wir versammeln nur die Besten und die Engagiertesten.« Er machte eine kurze Pause. »Daher möchten wir auch Sie an Bord haben.«
Sebastian lehnte sich zurück, es arbeitete hinter der Stirn. Das klang zu gut, um wahr zu sein. Wenn man einen Forscher fragte, was bei Forschungsmöglichkeiten sein feuchtester Traum wäre, würde er nicht viel anders klingen. Unbegrenzte Mittel, internationale Experten, neuestes Equipment in einer Anlage, die neu entworfen wurde – perfekt. Zu perfekt.
Er wandte sich Melanie zu.
»Ganz ehrlich? Ich möchte euch glauben. Absolut. Es wäre mir eine Ehre, bei einem solchen Projekt mitmachen zu dürfen. Aber es klingt alles zu gut, zu glatt. Ich kann das nicht wirklich glauben.«
Weihhausen nickte.
»Ihr gutes Recht, Herr Born, Ihr gutes Recht. Aber bei allem Respekt vor Ihrem Sachverstand in Ihrem Fachgebiet – mit Politik und insbesondere den Möglichkeiten der UN kennen Sie sich wohl kaum so gut aus wie ich. Und ich sage Ihnen, das von mir Skizzierte ist nicht nur möglich, es wird gerade Realität.«
Ein paar Sekunden verstrichen, in denen keiner etwas sagte. Das Brodeln einer Espressomaschine im Hintergrund dominierte die Szenerie.
Dann beugte sich Weihhausen vor. »Gut, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Begleiten Sie mich zu unserer neuen Forschungsanlage und schauen Sie sich dort unser Projekt live vor Ort an. Wenn Sie dann dazustoßen wollen, würden wir uns ... würde ich mich sehr darüber freuen. Und wenn nicht, müssen Sie mir nur versprechen, diese Unterhaltung hier und alle späteren Informationen geheim zu halten.« Eine gebräunte Hand streckte sich Sebastian entgegen. »Also? Nehmen Sie diesen Deal an?«
Sebastian fummelte unwillkürlich an dem großen, schweren Kopfhörer herum, der seine Ohren vor dem Hubschrauberlärm schützen sollte. Unter ihnen zog ein dänisches Waldgebiet dahin und in der Ferne kam eine Kleinstadt in Sicht. Melanie neben ihm drehte sich zu ihm und zeigte durch das Seitenfenster auf die Häuseransammlung.
»Skagen. Nur ein paar tausend Menschen wohnen dort. Aber man hat von hier gute Verkehrsanbindungen, insbesondere per Schiff. Und hier wird wohl keiner eine solche Anlage suchen, daher haben wir uns für diesen Ort entschieden.« Ihre Worte kamen aus den Kopfhörern, ohne wären sie sicherlich schon lange taub.
Sebastian nickte und konzentrierte sich wieder auf die Landschaft. Die UN hatte ihm kaum Zeit zum Packen gegeben, alles musste wahnsinnig schnell gehen. Eine Verschwiegenheitserklärung mit ruinöser Vertragsstrafe hatte er noch im Restaurant unterzeichnen müssen. Dann war er schnell nach Hause gefahren, um Klamotten einzusammeln und jemanden für die ungewisse Zeit zu finden, der mal nach der Wohnung sah. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Sebastian atmete durch. Jetzt, diese Momente im Hubschrauber waren das erste Mal in den letzten zwei Tagen, dass er wieder durchatmen konnte. Er schaute hinunter auf die ruhig daliegenden Wälder, die wie ein dunkelgrüner Teppich das Land bedeckten, nur hier und da unterbrochen von Landstraßen. In der Ferne sah man das Meer und die schroffen Felsküsten, die mehr an Cornwall als an Dänemark erinnerten. Ihre Maschine gewann noch etwas an Höhe und Skagen, das gerade unter ihnen vorbeizog, wurde immer kleiner. Hinter der Stadt ließ ihr schweigsamer Pilot den Hubschrauber wieder sinken und sie flogen immer weiter Richtung Meer. Sebastian beugte sich vor und schaute an der Schulter des Piloten vorbei auf die Instrumente. Richtung Nordwest. Er zog seinen PDA heraus, blendete eine Karte des Gebiets ein und schaute, was ungefähr ihr Ziel sein konnte. Ein gespielt empörtes »tsts« aus seinem Kopfhörer unterbrach seine Gedanken. Melanie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Mr. Holmes,