»Ah, Benjamin. Schön, dass du noch kommen konntest.« Eine Spur Ironie in der Stimme des Redeführers.
Der Neuankömmling nickte kurz in die Runde. Eine gewisse Abfälligkeit gegenüber David konnte er dabei kaum verbergen. Interessant.
»Und? Wie retten wir heute die Welt?« Benjamin ließ sich auf seinem Stuhl nieder.
»Die Welt ist erst nächste Woche dran.« Die letzten Worte zog David gekünstelt lang. Hier konnte sich wer wirklich nicht leiden. »Diesmal kümmern wir uns um den Ausbau der Autobahn, dem ein Wald zum Opfer fallen soll. Und Regina hatte gerade einen interessanten Ansatz offenbart.« David nickte ihr zu. Regina spürte, wie ihre Wangen erröteten, als Adonis zu ihr herüberschaute und sie nach einem kurzen, musternden Blick anlächelte.
Und dann sprach er sie auch noch direkt an!
»Was ist denn dein Plan?«
»Ich ... ich meine ... wir sollten bei den Finanzen ansetzen. Beim Geld, ja«, stotterte sie. Innerliche Ohrfeige, ihr wurde heiß und kalt. Mach dich nicht lächerlich! Du bist kein kicherndes Schulmädchen mehr!
»Ich würde vorschlagen herauszufinden, mit welchen Mitteln der Ausbau finanziert wird und die dazugehörigen Haushaltsausschüsse mit ein paar dreckigen Details über den abzuholzenden Wald zu konfrontieren.«
Ben wog den Kopf hin und her, seine nassen Locken schwangen im Takt mit. Regina lief ein Schauer den Nacken hinunter. Warum hatte sie den nicht schon früher kennengelernt?
»Könnte funktionieren. Ist mir aber noch zu lasch.«
»Zu lasch?«, platzte es aus ihr heraus. »Immer noch besser als Flugblätter verteilen oder für den Weltfrieden beten.« Ihre Stimme bebte.
Ben runzelte belustigt die Stirn.
»Na wenigstens bin ich hier nicht der Einzige, der mal etwas Pep in die Diskussionen bringt.« Er schnappte sich einen Keks vom Tisch und schob ihn sich genüsslich in den Mund.
»Ben, bitte!«, wies ihn der Ortsgruppenleiter empört zurecht. »Wir ziehen hier alle an einem Strang.«
»Tun wir das wirklich?« Ben erhob sich betont langsam.
»Meine Kumpels und ich haben mit unseren direkten Aktionen tausendmal mehr Erfolg als ihr mit euren Unterschriftenaktionen in der Innenstadt.«
»Dafür stehen wir aber auch nicht ständig mit einem Bein im Gefängnis«, murmelte die Ladenbesitzerin so laut, dass es alle hören konnten.
Ben stand auf, drehte sich zu ihr um. Für einen Moment sah es so aus, als ob er ihr eine runterhauen wollte. Die Frau duckte sich unwillkürlich weg.
Doch Ben entspannte sich von einem Moment auf den anderen und fing lauthals an zu lachen.
»Oh Mann, jetzt weiß ich wieder, warum ich mich hier ewig nicht mehr hab blicken lassen. Lächerlich.« Er lachte erneut auf. »Ihr seid so unglaublich lächerlich.« Eine schwunghafte Geste in die Runde. »Meint ihr wirklich, ihr würdet irgendetwas bewegen? Nein. Oh nein. Ihr habt es euch bloß so gemütlich gemacht im Konsumtempel Deutschland, dass ihr keine Lust habt, irgendetwas zu riskieren. Erbärmlich.«
Mit diesen Worten drehte er sich um, schnappte sich seine immer noch nasse Jacke vom Stuhl und ging zum Ausgang. Er hatte ihn fast erreicht, da drehte er sich noch einmal um. Über das empörte Gemurmel hinweg sah er Regina direkt an und streckte seine Hand aus.
»Willst du wirklich etwas bewegen? Oder hier bei der Müslifraktion Unterschriftenzettel vorbereiten?«
Ein Angebot, dass man …
Schmerzen. Ein Wummern im Schädel. Irgendetwas Kühles auf seiner Stirn. Hochgelegte Beine. Sebastian öffnete langsam die Augen. Ein ihm unbekannter Raum. Ein Büro. Schwerer Schreibtisch, Aktenschränke. Schäbiger Teppich. Und eine junge Frau auf einem Stuhl, die ihn belustigt ansah. Ihre spöttisch hochgezogenen Augenbrauen harmonierten gut mit ihrem feuerroten, langen Haar über dem schwarzen Business-Kostüm.
»Starker Auftritt, Herr Born. Etwas zu theatralisch für meinen Geschmack und es hätte genauer ausformuliert sein können, insbesondere weniger umgangssprachlich, um auch in den Elfenbeintürmen gehört zu werden. Aber nichtsdestotrotz eindrucksvoll.« Sie stand auf, kam langsam auf ihn zu, füllte sein Blickfeld aus. Unbewusst glitten seine Augen über ihren vom Kostüm dezent betonten Körper. Netter Anblick. Sie schien es gemerkt zu haben und lachte auf.
»Naja, so schlecht kann es Ihnen offenbar gar nicht gehen.«
»Ich ... ich wollte nur«, haspelte er, was sie noch weiter belustigte.
»Lassen Sie es gut sein. In Ihrem Zustand verzeihe ich Ihnen fast alles.«
»Wo bin ich? Und wer sind Sie?« Er richtete sich langsam auf, was die Schmerzen hinter der Stirn rapide verschlimmerte und ihm ein Stöhnen entlockte.
»Im Büro eines Bundestagsabgeordneten. Nachdem Sie umgekippt sind, wollte ich Sie ungern auf dem Boden liegen lassen. Auch wenn Sie es nach Meinung einiger Konferenzteilnehmer verdient gehabt hätten. Mindestens.« Sie zog eine Visitenkarte aus der Hosentasche und gab sie ihm in die Hand. Ihre Finger berührten seine Handinnenfläche. Warme, weiche Haut. Als sie sich zu ihm bückte, wehte etwas Luft zu ihm. Ihre. Der Duft nach Kirschen, süßlich, ohne schwer zu sein.
»Mein Name und die Kontaktdaten stehen hier drauf. Tun Sie mir bitte einen Gefallen, sobald es Ihnen wieder besser geht. Rufen Sie mich an.«
Hoffnung stieg in ihm auf, um sofort wieder zunichte gemacht zu werden.
»Ich bin interessiert an Ihren Forschungsergebnissen, die Sie zu dieser Rede animiert haben. Und nicht nur ich.«
Sie ging zur Tür, schaute noch einmal über die Schulter.
»Warten Sie nicht zu lange mit Ihrem Anruf.«
Und ging.
Sebastian ließ sich wieder auf das Sofa sinken, machte die Augen zu. Eine seltsame Ruhe hatte ihn erfasst. Er hatte seine Rede gehalten. Die seine Karriere beendet haben dürfte, wenn er sich nicht täuschte. Ein gewisser Stolz kam in ihm hoch. Er hatte zwar noch keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Aber er hatte das Richtige getan. Sebastian machte sich keine falschen Illusionen. Seine Worte würden keine allzu große Wirkung entfalten. Es war eine nette Anekdote für die Konferenzteilnehmer, nicht mehr. Aber etwas hatte sie bewirkt: Er konnte sich selbst wieder ins Gesicht sehen. Das erste Mal nach langer Zeit, in der er an seinen Möglichkeiten im Forschungsministerium fast verzweifelt war, war er mit sich selbst im Reinen. Und arbeitslos.
Die Tasse Glühwein in der Hand spendete Wärme. Sinnlos bei zwanzig Grad im Schatten. Aber in der Adventszeit war das Getränk in seiner Familie immer nette Tradition gewesen. Eine Möglichkeit, sich gesellschaftlich anerkannt einen hinter die Binde zu kippen und albern zu kichern. Sogar für seine sonst nur zu ernste Mutter. Sebastian schüttelte den Kopf, vertrieb die Gedanken. Und klappte den Laptop auf. Eine Dachterrassensitzung im Winter. T-Shirt. Glühwein. Verrückte Welt. Er stöpselte das Kabel des Headsets ein, rief die Dateien mit seinen Forschungsergebnissen auf und tätigte den Anruf, vor dem er sich nun seit zwei Tagen beharrlich drückte. Es klingelte. Ein Montagnachmittag. Vorweihnachtstag. Nichtsdestotrotz hatten die Entlassungspapiere noch am selben Morgen in seinem Briefkasten gelegen. Man hatte sich eines Boten bedient, um sicherzugehen, dass er die »guten Nachrichten« noch rechtzeitig vor der Bescherung erhielt. Seine langen Jahre der harten Arbeit im Ministerium hatten nicht gereicht, seine Rede zu egalisieren. Er war raus. Was ihm diesen Anruf erleichterte. Die Schiffe am Strand brannten. Nun konnte er auch in den unbekannten Dschungel hineinmarschieren.
»Ja.« Ihre samtweiche, undeutbare Stimme.
»Born.«
»Ach, Herr Born. Schön von Ihnen zu hören. Endlich.«
Sebastian lächelte.
»Hätte ich am Wochenende anrufen sollen? Kurz vor Weihnachten?«
»Ich hatte darauf gehofft, ja. Und, sind