Froststurm. Jan-Tobias Kitzel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan-Tobias Kitzel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783957770615
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der seit Tagen über Berlin niederging. Die Einkaufsstraße zu seiner Rechten, bahnte er sich den Weg durch die Massen an Weihnachtseinkäufern. Verrückt, am zwanzigsten Dezember noch Einkäufe zu machen. Noch dazu an einem Freitag. Zu diesem Zeitpunkt sollte man bereits alles erledigt haben. So wie er: Gut geplant, bereits Ende November mit allen Einkäufen für die Familie und Freunde durch. Er öffnete im Gehen seinen Anorak. Macht der Gewohnheit, überhaupt einen anzuziehen. Bei 18 Grad nicht wirklich notwendig. Verrücktes Wetter. Die Schneewahrscheinlichkeit für die Feiertage lag bei null Prozent. In Norwegen. Der Rest von Europa hätte noch darunter gelegen, wenn dies mathematisch möglich gewesen wäre. Die warmen Monate gingen weiter. Was ihm Angst machte. Und Arbeit brachte.

      »Eine kleine Spende?« Ein dicker Mann im Weihnachtsmannoutfit hielt Sebastian eine dem Scheppern nach prallvolle Klingeldose unter die Nase. Der Fahne nach zu urteilen, hatte der »liebe Onkel« schon mehr als einen Glühwein getrunken, um die stupide Arbeit etwas erträglicher zu machen. Sebastian kramte in seiner Tasche, holte ein Zwei-Euro-Stück hervor. Dann hielt er inne. »Wofür sind die Spenden?«

      Der Weihnachtsmann schaute ihn an, als ob er von einem anderen Planeten kommen würde. Auch zu Weihnachten hatte er nichts zu verschenken.

      »Tierheime, Kindergärten, such es dir aus, Mann.«

      Sebastian steckte die Hand zurück in die Tasche und ging zügigen Schrittes weiter.

      »Arschloch«, klang es ihm laut hinterher.

      Sebastian zuckte mit den Schultern. Man konnte keinem trauen. Erst recht nicht diesen Spendensammlern. Wenn er einer Organisation etwas Gutes tun wollte, dann nur für Forschung. Darin lag die Zukunft. Tiere waren Ablenkung. Und um Kindergärten kümmerten sich die Kollegen vom Familienministerium ganz gut. Die brauchten nix nach der Bildungsoffensive 2013. Natürlich kurz vor der Wahl lanciert. Sebastian lachte auf. Das Politikspiel hatte sogar ihn, den angestellten Meteorologie-Forscher vom »Bundesministerium für Bildung und Forschung« eingefangen. Auch wenn er sich immer noch dagegen sträubte, Gefallen nur gegen Retouren zu tun und immer über die Schulter zu schauen, wer gerade zuhörte.

      Ein schneller Blick auf die Uhr. Mist, er hatte über den Stadtbummel in der Diskussionspause die Zeit vergessen. Hektisch schaute er sich um. Natürlich. Die Straße war brechend voll. Aber kein Taxi in Sicht. Sebastian seufzte auf, machte den Mantel wieder zu und eilte schnellen Schrittes zurück zum provisorischen Ausweichgebäude des Bundestags.

      Die Gummisohlen seiner Anzugsschuhe quietschten unbarmherzig laut auf dem edlen Steinboden des Foyers. Köpfe drehten sich zu ihm um, Sebastian duckte sich unwillkürlich. Hektisch schaute er sich um, bemühte sich, Dr. Roberts zu entdecken. Um ihm auszuweichen. Plötzlich, von der Seite: »Herr Born. Wie sehen Sie denn aus?«

      Sebastian ließ alle Hoffnung fahren und drehte sich um. Regen tropfte aus seiner Kleidung auf den Boden, auf den letzten Metern hatte natürlich auch noch sein Schirm versagt. Scheiß Hauptstadtwind. Was für ein Tag.

      Sebastian senkte demütig den Kopf. »Entschuldigen Sie die Verspätung, Dr. Roberts.«

      Seinem Gegenüber entfuhr ein lautes Lachen, das sogar im vollbesetzten Foyer gut zu hören war. Dieselben Köpfe wie vorhin drehten sich zu ihnen um. Impertinent!

      »Welche Verspätung, Herr Born?« Dann schlug sich der alte Mann mit gespieltem Erstaunen vor die kahle Stirn. »Ach ja, ist ja ihre erste Konferenz. Hören Sie. Wenn hier jemand sagt »Eine halbe Stunde Pause«, dann können Sie das locker verdoppeln. Politiker und freie Buffets. Nichts bringt Zeitpläne mehr durcheinander.«

      Da musste selbst Sebastian schmunzeln, spürte dann aber den tadelnden Blick seines Vorgesetzten. »Ich habe Sie nicht wegen der zeitlichen Lage angesprochen, sondern wegen Ihrer Kleidung. Sie tropfen hier gerade den Boden voll. Und Sie wollen gleich einen Vortrag halten? Guter Gott. Gehen Sie sich bitte frisch machen. Und trocken, wenn es geht.«

      Sebastian nickte, ballte die Faust in der Jackentasche und ging schnellen Schrittes zur Treppe, die hoch zum Garderobenbereich und zu den Toiletten führte

      »Und kommen Sie gleich pünktlich«, schallte es ihm noch hinterher.

      Unglaublich, wie dieser Mann so die Massen überschreien konnte. Und kein bisschen peinlich. Jedenfalls nicht für ihn. Sebastian kochte innerlich. Knibbelte an seinen Daumen herum, genoss den kurzen, spitzen Schmerz, als die Haut riss. Warum hatte er nicht auf die Zeit geachtet? Und einen vernünftigen Schirm mitgenommen?

      Zehn Minuten Gehampel unter dem Handfön und ungezählte Papierhandtücher später fühlte sich Sebastian wieder halbwegs wie ein Mensch. Äußerlich wirkte er unauffällig wie eh und je. Die meisten anderen übersehen Menschen wie ihn: Durchschnittlich groß, durchschnittliche fünf Kilo zu viel auf den deutschen Rippen, kurze, nichtssagende Frisur, randlose Brille. Der Durchschnittstyp in der U-Bahn, der Mieter von nebenan. Aber heute war er jemand, der etwas zu sagen hatte. Das war mehr, als der Durchschnitt wagen würde. Und er hatte den Mumm. Endlich. »Du hast es drauf. Du wirst sie überzeugen. Du kannst das!«, murmelte er vor sich hin, als er die Toilette verließ. Die einschlägigen Psycho-Kolumnen mochten mit ihren »Sprich mit dir«-Tipps vielleicht sogar Recht haben. Er fühlte sich wirklich etwas selbstsicherer. Nicht, dass das sonst seine große Stärke gewesen wäre.

      Er eilte die Treppe hinunter, sah gerade noch, wie die letzten Gäste zurück in den Saal gingen. Wenigstens kam er jetzt pünktlich. Er bog vor der Einlasstür links ab, ging den Gang schnell hinunter, zückte vor der Security des Bundestags seinen Ausweis und wurde in den hinteren Bereich vorgelassen. Hier sah alles improvisiert aus. Kisten stapelten sich, kleine Büros waren besetzt mit drei oder mehr Beamten der Verwaltung. Überall lungerten Sicherheitsleute herum. Das Kongresszentrum war vor gut sechs Monaten über Nacht zum provisorischen Bundestag geworden. Durch eine Nacht des Feuers, des deutschen Dschihad. Sebastian schüttelte den Kopf und verdrängte die Gedanken, die ihm wie so vielen Deutschen auch nach Monaten noch fest im Kopf saßen. Der Glaube an die eigene Unverwundbarkeit. Weggebombt. Und er lief mit quietschenden Schuhen in einem als edles Kongresszentrum erbauten Gebäude herum und war drauf und dran, eine Rede zu halten. Nein, nicht eine Rede. Die Rede. Die Rede seines Lebens.

      Dort hinten. Die Seitentür zur Bühne. Frau Debrischek blickte sich schon hilfesuchend um. Sebastian hob die Hand und winkte ihr zu. Die Protokollbeauftragte bedachte ihn mit einem Blick des Todes. Er war fast zu spät. »Aber nur fast«, murmelte er, schloss die Hand fester um seine Notizen und ging zügig zu ihr hin. Selbst durch die geschlossene Tür konnte er die Stimme seines Vorgesetzten hören, der ihn gerade auf der Bühne ankündigte. Der Kloß in seinem Hals wurde größer. Der Blick der sofortigen Vernichtung von der Seite half da auch nicht wirklich. »Machen Sie so einen Scheiß nie wieder mit mir!«, zischte ihm Frau Debrischek von der Seite zu, als sie die Tür öffnete und Sebastian in den Bereich hinter der Bühne schubste. Wie unter Trance stieg er die Treppe zur Bühne hinauf. Dort, wo sonst der Bundestagspräsident mit seinen Vizes saß und das Parlament leitete. Seine Beine fühlten sich an wie Blei. Mit gerade einmal Anfang dreißig eine Rede vor einer UN-Konferenz halten. Er musste verrückt sein. Sein Vorgesetzter kam ihm entgegen, lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.

      Ohne dass er sich erinnern konnte, weitergelaufen zu sein, stand er schon auf der Bühne. Vor dem Podest. Neben ihm der Teleprompter, vor ihm seine zerknitterten Unterlagen. Für den Notfall. Und vor ihm dreihundert Gäste aus aller Welt, die ihn ansahen. Und sich auf einen weiteren, geistreichen, langweiligen Vortrag freuten. Wie es bei einer UN-Konferenz üblich war. Damit man sich am Ende bedeutungsschwer die Hand schütteln konnte. Und eine Folgekonferenz vereinbarte.

      Sebastian nickte unsicher in die Runde, konzentrierte sich dann auf den Teleprompter und startete ihn durch einen Druck auf das entsprechende Fußpedal.

      »Wir haben versagt.« Er ließ die Worte nachklingen. Die ersten Köpfe wandten sich nach oben, gelangweilte Nebengespräche verstummten. »Wir haben auf der ganzen Linie versagt.« Er trat vom Pult zurück und lief die Bühne auf und ab, vergaß den Teleprompter, vergaß das Drumherum. Nur er und die Zuhörer existierten.

      »Wir hätten handeln können. Vor Jahrzehnten, als die ersten Forschungsergebnisse zur globalen Erwärmung