Klaus Stefan Freyberger | |
Christian Zitzl | München/Freyung, Juni 2016 |
Einleitung
Kein antikes Bauwerk in Rom vermag eine so große Faszinationskraft auf die Besucher auszuüben wie das Kolosseum (Abb. 1, 2). Als meistbesuchter Attraktions- und Erinnerungsort im Herzen der Ewigen Stadt wird das Bauwerk bis heute nicht nur von Touristen, sondern auch von Künstlern, Architekten und Altertumswissenschaftlern aus aller Welt aufgesucht.
Forschungsgeschichte
Unzählige wissenschaftliche Untersuchungen aus den Bereichen der archäologischen, historischen und kunsthistorischen Forschung vermitteln ohne Widerspruch eine einheitliche Vorstellung über den geschichtsträchtigen Monumentalbau. Nach gängiger Meinung ließ Kaiser Vespasian (69–79 n. Chr.) das größte Amphitheater der Antike mit einem Fassungsvermögen von rund 50.000 Zuschauern auf dem Gelände eines trockengelegten Sees errichten. Dabei fällt auf, dass im Fokus der Studien mehr das Geschehen der Gladiatoren- und Tierkämpfe steht als das Bauwerk selbst.1 Erst in jüngerer Zeit rückten das architektonische Rahmenwerk und die Ausstattung des Kolosseums und anderer Amphitheater der römischen Welt in den Vordergrund der Betrachtung. Größere Untersuchungen galten einzelnen Amphitheatern2, die meist in Abhängigkeit von der flavischen Chronologie des Kolosseums in diese oder gar spätere Zeit datiert wurden.3 Kleinere Studien sind auch der Bautechnik und den verwendeten Baumaterialien gewidmet.4 Beschränkten sich die genannten Arbeiten vorwiegend entweder auf einen Bau oder nur wenige Gebäude, so erschienen auch Publikationen, die das Thema der Amphitheater in übergreifender Weise erörterten. Allen voran ist die Arbeit von J.-C. Golvin zu nennen, die bis heute die Grundlage für alle Forschungen zu römischen Amphitheatern liefert.5 Gleich einem Kompendium enthält diese Studie eine Gesamtschau der Monumente von der späten Republik bis in das 3. Jh. n. Chr. Die ausführlichen Beschreibungen der Bauwerke sind für den Leser durch zahlreiche Pläne mit Grund- und Aufrissen sowie mit Längs- und Querschnitten leichter nachvollziehbar. Von großem Verdienst ist auch das Monumentalwerk von G. Tosi, in dem das ganze Material und alle Daten zu den Amphitheatern in Italien vorgelegt sind.6 Eine der jüngsten Untersuchungen zu diesem Thema ist die groß angelegte Arbeit von T. Hufschmid, die den Amphitheatern in Italien und den römischen Provinzen gilt.7 Ausgehend von den Amphitheatern in Augusta Raurica analysiert der Autor nicht nur deren architektonische Befunde und technische Einrichtungen, sondern vergleicht auch diese Bauwerke mit Amphitheatern in Italien, insbesondere mit den Bauten in Rom, Pompeji, Puteoli (Pozzuoli) und Capua (Santa Maria Capua Vetere). Aus der Gegenüberstellung geht hervor, in welcher Weise das paradigmatische Vorbild aus Rom in den Provinzen aufgenommen und auch eigenwillig umgesetzt wurde. Darüber hinaus wird das römische Amphitheater im kulturhistorischen Kontext übergreifend erörtert. K. Welch thematisierte in ihrer Monographie vor allem die Amphitheater in spätrepublikanischer und augusteischer Zeit.8 Dabei hob sie zu Recht die Bedeutung des in der Forschung wenig beachteten Amphitheaters des Statilius Taurus hervor, das zum verbindlichen Leitbild aller folgenden Amphitheater in der römischen Welt wurde.9
Abb. 1: Rom, Kolosseum, Fassade, Nord-West-Ansicht.
Ziel und methodische Durchführung der Arbeit
Trotz der großen Anzahl kritischer Studien wurden die bis heute fest verankerten Vorstellungen über die Baugeschichte des Kolosseums nie in Frage gestellt. Dieser Tatbestand mutet umso merkwürdiger an, da die Bau- und Dekorformen Anhaltspunkte liefern, die auf eine entschieden ältere Entstehungszeit des Gebäudes verweisen. Was für alle Repräsentationsbauten gilt, trifft nämlich auch für Theater und Amphitheater zu: Die Fassade eines flavischen Monuments kann kaum genauso aussehen wie die eines wesentlich älteren Bauwerks, zumal es keine feststehende funktionale Fassadengestaltung gibt. Aus diesem Grund ist zu überprüfen, inwieweit die Datierung des Kolosseums in flavische Zeit ihre Berechtigung hat.
Zudem ist schwer vorstellbar, dass ein Monumentalbau wie das Kolosseum ausgerechnet an die Stelle eines Sees gesetzt worden sein soll. Kein Architekt würde jemals versuchen, ein solches Areal als Baugrund zu wählen, wenn andere Bauplätze zur Verfügung stehen. Ein See hinterlässt, auch wenn er trockengelegt ist, einen weit schlechteren Baugrund als ein von vornherein trockenes Gelände. Man hätte die Fundamente aus opus caementicium auf einen Pfahlrost setzen und immer mit hohem Grundwasser rechnen müssen. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die Angaben antiker Autoren, die sich auf den künstlichen See, das stagnum, beziehen, einer anderen Erklärung bedürfen.
Angesichts dieser Ungereimtheiten setzten sich die beiden Autoren in der vorliegenden Arbeit das Ziel, das herkömmliche Bild über die Bau- und Nutzungsgeschichte des Kolosseums kritisch zu überprüfen. Dabei wurden die Befunde der Grabungen im Bereich des Kolosseums und der Meta Sudans, die Bau- und Dekorformen unter Berücksichtigung technischer Kriterien, aufschlussreiche Bildwerke des Kolosseums sowie die Bauinschriften und die schriftlichen Zeugnisse antiker Autoren zu diesem Bauwerk eingehend analysiert. Eine ausführliche Konfrontation mit anderen Amphitheatern dient dazu, die Chronologie des stadtrömischen Monumentalbaus zu präzisieren. Da im Rahmen dieser Studie nur eine begrenzte Auswahl von Vergleichsbeispielen herangezogen werden kann, wurden signifikante, für die Zielvorgaben der Arbeit aussagekräftige Bauwerke ausgewählt. Aus der Vernetzung und Gesamtschau aller Fakten ergaben sich inhaltliche Aspekte, die das herkömmliche Wissen über die Baugeschichte des Kolosseums in ein neues Licht stellen. Wenn auch die Resultate von hypothetischem Charakter sind, so zeigen sie doch das größte Amphitheater der Antike in einem erweiterten historischen Kontext, der Anregungen zu zukünftigen Untersuchungen mit neuen Aufgabenstellungen geben soll.