Bube, Dame, König. Fabian Vogt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Vogt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783865064486
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gelegte und mit Puder durchzogene Perücke, die bei jeder Bewegung eine feine Staubwolke absonderte. Darüber aber schwebte ein Dreispitz. Nervös zog der Mann ein Taschentuch aus seinem Rock und putzte sich die juckende Nase. Dann faltete er das Tuch zusammen und begann, mit einem Zipfel die Pistole zu reinigen, die auf seinen Knien lag. Dabei fragte er unruhig: »Wann sind wir denn endlich da?«

      Er musste schreien, um das kreischende Geräusch der Metallräder auf den Steinen zu übertönen. Der Kutscher, dessen linker Arm fehlte, warf einen Blick durch die Scheibe hinter seinem Sitz, als wolle er sehen, was er am geschicktesten antworten könnte. Schließlich rief er: »Gleich, Sir!«

      Der Passagier beugte sich aus dem Fenster und hielt dabei seinen Hut fest: »Riecht es hier immer so?«

      Der Einarmige zog die Zügel etwas fester. Ein verhaltenes Lächeln tanzte auf seinem Gesicht: »O nein, Sir, heute ist es angenehm. Der Regen dämpft den Geruch. Ihr könnt übrigens dankbar sein. Noch vor kurzem sind hier jeden Morgen die Viehherden durchgetrieben worden, die die Bauern auf dem Markt verkaufen. Da hat es wirklich gestunken. Zum Glück gibt es jetzt endlich die New Street. Die wurde extra wegen der vielen Tiere gebaut, die immer die Straßen voll scheißen. Ihr solltet das genießen, Sir! Diese Mischung aus Asche, Verwesung, Heu und Mist: Das ist London.«

      Noch einmal zog ein schräges Grinsen über sein Gesicht, als er die Pferde wieder antrieb. Der Passagier zog angewidert seinen Kopf zurück und schloss das Fenster mit einem Ruck. Die Finger seiner linken Hand strichen nervös die Pistole entlang, als könnten sie sich daran festhalten. Der Kutscher blickte währenddessen suchend umher und bog dann mehrfach wahllos ab, um an diesem Sonntagmittag jemanden zu finden, der ihm den Weg weisen könnte.

      In der Little Chapel Road fiel ihm ein kleines Mädchen auf, das dort zitternd mit seinem selbst gezimmerten Wägelchen am Straßenrand stand. Doch er beschloss weiterzufahren, bis er einen älteren Passanten entdecken würde. Als er sich dem Kind näherte, kreuzten sich ihre Blicke, und dem Kutscher war für einen Augenblick, als könne er in diese gierigen Augen hineinfallen, so groß und weit schauten sie auf die glänzende Karosse.

      In dem Moment, in dem das eindrucksvolle Gefährt auf Höhe des Mädchens war, nahm dieses plötzlich seinen klapprigen Kinderwagen und schob ihn mit aller Kraft, über die es verfügte, auf die Straße. Knirschend zermalmte das Hinterrad der Kutsche die hölzerne Konstruktion, trennte der Puppe den Kopf vom Leib und ließ das darin enthaltene Stroh herausquellen. Die kleinen Eisenstäbe, die dem Spielzeug als Achsen dienten, wurden einen Moment lang mitgeschleift und fügten dem tiefen Klagen der Kutschenräder ein hohes, kratzendes Schreien hinzu. Wütend ließ der Kutscher die Pferde anhalten: »Wie kann man nur so töricht sein? Ich hätte große Lust ...«

      Die Stimme des Reisenden aus der Kutsche unterbrach ihn: »Was ist denn los?«

      Der Einarmige stieg vom Kutschbock und schimpfte dabei weiter: »Der Puppenwagen dieser Göre ist unter die Räder gekommen.«

      Der Passagier blickte auf das Mädchen hinunter, das unbeweglich dastand und ihn mit großen Augen anstarrte. Unvermittelt fragte es: »Du! Bist du ein Prinz?«

      Überrascht von der Frage, vergaß der Mann seinen Ärger über die Unterbrechung für einen Moment. Ein Lächeln flog über sein Gesicht wie ein Vogel, der den Himmel entlangzieht. Doch er war offensichtlich im Umgang mit Kindern unerfahren, denn er antwortete sehr ernsthaft: »Ein Prinz? Nein! Ich heiße Frederik.«

      Das Kind trat an die Kutsche heran »Aber der Prinz heißt doch Frederik!«

      Der Kutscher zerrte die Überreste des Puppenwagens hervor, während der Reisende schmunzelte: »Du meinst Prinz Friedrich, den Sohn von König Georg II. Ich hoffe nicht, dass ich der bin, der ist nämlich schon vor einigen Jahren gestorben. Ich bin Lord Fre derik von Kilmarnok. Pass auf: Ich gebe dir zehn Schilling, davon kannst du dir ein neues Spielzeug kaufen.«

      Während der Mann nach seiner Geldbörse griff, musterte ihn das Mädchen von oben bis unten: »Du siehst aber aus wie ein Prinz.«

      Lord Kilmarnok zuckte bedauernd mit den Schultern: »Tut mir Leid, dass ich dich enttäusche. So, und jetzt muss ich weiter.« Er hielt dem Kind die Münze hin und lehnte sich dabei weit aus dem Fenster. Doch das durchnässte Mädchen fing plötzlich an, bitterlich zu weinen. Tränen schossen aus seinen Augenwinkeln und vermischten sich mit dem Regen auf seinem Gesicht. Irritiert schaute der Reisende den Kutscher an, dann holte er eine weitere Münze aus seiner Börse. Das Kind aber wollte sich nicht beruhigen. Es schluchzte: »Du musst mit mir reinkommen und mit meiner Mama reden!«

      Der Kutscher war inzwischen wieder auf seinen Sitz gestiegen. Lord Kilmarnok schüttelte den Kopf: »Ich muss leider weiter. Ich habe es sehr eilig.«

      Das Mädchen begann erneut zu weinen, diesmal so laut, dass an zwei Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Fenster geöffnet wurden und neugierige Gesichter hervorlugten. Unruhig blickte sich der Kutscher um: »Sir, lasst uns weiterfahren! Ihr werdet doch wohl nicht in so ein dreckiges Loch steigen, nur weil eine alberne Göre weint. Mit den zwanzig Schilling kann die Familie eine ganze Monatsmiete bezahlen. Ihr dagegen werdet Euch bei Leuten dieser Art wahrscheinlich irgendwelche Krankheiten einfangen.«

      Während der Einarmige gesprochen hatte, war das Kind rot angelaufen und hatte energisch mit dem Fuß auf den Boden gestampft. Mit einem zornigen, aufbrausenden Stolz blickte es auf den Kutschbock: »Bei uns ist alles sauber. Und wir haben etwas, was du niemals haben wirst, du komischer Mann, du: Wir haben einen König bei uns zu Gast.«

      Plötzlich war es still. Als hätte jemand den Regen und den Wind angehalten und die letzten Vögel zum Schweigen gebracht. Zumindest erschien es dem Reisenden so, dessen Hände sich um die Pistole verkrampften, die die ganze Zeit neben ihm auf dem Sitz gelegen hatte. Das Mädchen entdeckte den ungezügelten Hass, der von den Gesichtszügen des Lords Besitz ergriff, und trat instinktiv einen Schritt zurück. Das war gut so, denn im selben Augenblick flog die Tür der Kutsche auf und der Edelmann stieg heraus. Ohne die Bewegung im Geringsten verbergen zu wollen, steckte er seine Waffe in den Gürtel und nahm das Mädchen grob an der Hand: »Lass uns zu dir gehen!«

      Ungehalten klang die Stimme des Kutschers von oben herab: »Sir, Ihr wisst, dass ich hier in den Straßen höchstens eine Stunde stehen bleiben darf.«

      Lord Kilmarnok würdigte ihn keines Blickes. Leise zischte er: »Keine Sorge, so lange werde ich gewiss nicht brauchen.«

      Der Adlige zog das Mädchen, das sich unter seinem festen Griff wand, hinter sich her. Doch als er die Haustür fast erreicht hatte, stockte sein Schritt. Durch die Öffnung klang ein weicher Gesang, der wie frische Seide an seiner Haut herabfloss. Sanft schlichen sich die Töne der Melodie in die Erinnerung des aufgewühlten Mannes, der verblüfft entdeckte, dass ihm die Musik vertraut war. Nach kurzem Zögern erkannte er ein Weihnachtslied, das er als Kind selbst oft gesungen hatte, Worte, die in ihm Bilder einer vergessen geglaubten Vergangenheit hervorriefen. Er, der bisher nur englisch gesprochen hatte, sah das Mädchen erstaunt an und fragte dann in deutscher Sprache: »Deine Familie spricht Deutsch?«

      Die Kleine nutzte die Gelegenheit, um ihren Arm mit einem Ruck aus der Umklammerung zu befreien: »Natürlich, mein Opa kommt aus Westfalen.« Mit kindlichem Stolz fügte sie hinzu: »Ich kann aber auch Französisch. Meine Uroma hat nämlich in Frankreich gelebt. Je suis …«

      Energisch, als sei es ihm peinlich, sich selbst bei einer Sentimentalität ertappt zu haben, und als müsse er den kurzen Moment der Schwachheit abschütteln, wandte sich Lord Kilmarnok wieder zur Tür und drückte die Klinke.

      Im Inneren des Hauses bot sich ihm ein seltsamer Anblick: Der Raum war mit Dutzenden von Talglichtern erhellt, in deren Schein eine junge Frau Papierbögen mit Hilfe einer faulig riechenden Masse an die hintere Zimmerwand klebte. Mit geübten Fingern strich sie die Bahnen glatt und achtete darauf, dass die Muster an den Kanten scheinbar nahtlos ineinander übergingen und die große Fläche langsam, aber sicher mit einer wild wuchernden Pflanzenpracht überzogen. Auf dem gelben Grund der Bögen stritten feste grüne Ranken und blaue Blütenreihen um die Vorherrschaft. Kunstvoll kreuzten sich die gemalten Gewächse, berührten einander an einigen