Als ich eine freie Woche im Februar hatte, ergab sich eine spontane Mitfahrgelegenheit nach Taizé, eine ökumenische Kommunität, in der sich Jugendliche aus ganz Europa trafen. Mitten in der Nacht wurde ich an einer Autobahnraststätte rausgelassen, keine 20 Kilometer entfernt sollte dieses Dorf Taizé sein. So wanderte ich die ganze Nacht durch den Regen, der auf die burgundischen Weinberge fiel, mich auf den Beinen haltend mit Gebeten. Am nächsten Morgen kam ich in Taizé an, völlig erschöpft, aber glücklich.
In den kalten Februartagen waren wenige Dutzend junge Menschen dort, während sich im Sommer Tausende in diesem kleinen burgundischen Dorf versammeln. Ich traf den Peter, der mit meinem Stefan zusammen war. Die sehr einfachen Unterkünfte waren unheizbar, aber die Wärme der herzlichen Gastfreundschaft machte alles wett. Ich saß in den Andachten, sang die einfachen Gesänge mit und Tränen lösten sich. Die Lieder von Taizé wurden meine Gebete. Eine ganz andere Gebetssprache als die, die ich kannte. Ich erlebte das wie eine Befreiung von der Geschwätzigkeit. Einfache Worte, die genug Raum lassen für das Hören. Denn das ist es doch, das Beten: Nicht Reden, sondern Hören.
Eines Abends hatte der Prior der Kommunität die wenigen jungen Gäste zum Kakaotrinken eingeladen. Das sei eine besondere Ehre, wurde uns von den Volontären vermittelt. Frère Roger, damals schon ein alter Mann mit einem gütigen Gesicht, nahm sich tatsächlich Zeit für jeden. Wir wechselten ein paar Worte, ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Aber es war ein Moment miteinander schweigen und sich nahe sein. Dann zeichnete der weise Mann ein Kreuz in meine Handfläche. Diesen Segen spüre ich bis heute bei mir.
So sehr für mich die alte Frömmigkeit, mit der ich aufgewachsen war, zerbrochen war, fand ich jetzt Neues, und die Angst wich. Nachdem ich Hebräisch und Griechisch absolviert hatte, war der Weg frei zum Theologiestudium. Ich reiste einigen Studenten nach, mit denen ich mich angefreundet hatte. Ehrlich eingestanden: Es war besonders einer, in den ich mich verliebt hatte. Heidelberg war unser Studienort, ideal für alle verliebten Romantiker und Geisteswissenschaftler. Weit genug weg von meinem Dorf und der Enge, der ich entkommen war. In meiner Gemeinde wurde ja allen jungen Menschen angeraten, zur Bibelschule zu gehen. Das taten auch viele. Ich war der einzige aus dem Kreis, der evangelische Theologie an einer Universität studierte. Das wurde nicht gerne gesehen. Meine Eltern haben mir nicht besonders vermittelt, dass sie dahinter stehen würden. Waren sie stolz, dass beide Söhne jetzt Akademiker wurden? Meine Mutter hielt mehr von zupackenden Handwerkern. Schon über die Ärzte spottete sie als Krankenschwester. Die würden zwar meinen, alles besser zu wissen, hätten aber keine Ahnung. Hätten ihre Söhne nicht besser Klempner oder Tischler werden können? Mutter nahm kein Blatt vor den Mund. Mein Vater aber sah in unserem Weg das verwirklicht, was ihm als jungem wissbegierigen Mann verwehrt blieb. Die Weite der Bildung. Wie meine Eltern es geschafft haben, uns beide finanziell im Studium zu unterstützen, das weiß ich immer noch nicht. Aber ich bin sehr dankbar. Mein Bruder wurde Lehrer, ich wurde Pastor. Es war nicht ihr Stil, uns zu loben. Dann hätten sich ihre Söhne noch dem Stolz hingegeben und gemeint, etwas Besseres zu sein. Meine Schwester machte aus Sicht meiner Mutter wenigstens etwas Anständiges, sie wurde Krankenschwester, wie es meine Mutter war.
In Heidelberg hatte ich nur wenig Geld für eine Studentenbude. Mein erstes Zimmer war in einem Keller in Ziegelhausen. Ich hatte einige Plakate aufgehängt, doch der Raum war so feucht, dass diese sich nicht an den Wänden halten konnten. Als die Seiten der Bücher und Hefte sich vor Feuchtigkeit wellten, zog ich aus. Meine nächste Behausung war in Schlierhausen in einer Wassermühle. Das Klo war die halbe Treppe runter, zum Duschen musste ich ins Schwimmbad. Ein Ölofen erwärmte den Raum unzureichend.
Ich liebte die weiten Wälder in den Hügeln des Neckartals. Stundenlang lief ich bergauf, bergab. Dort fühlte ich mich frei und Gott nahe.
Einer meiner ersten Freunde in Heidelberg war Christian, ein Student aus Togo. Er war sicherlich der erste, der mich in Verbindung mit dem afrikanischen Christentum brachte, mit dem ich aber auch tiefe philosophische Gespräche führte. Einmal waren wir fein essen, nahmen aber beim Blick auf die Preise das bescheidenste Gericht.
Wie mussten wir lachen, wir armen Studenten beim Anblick von drei hausgemachten Ravioli. Unsere Wege sollten sich immer wieder kreuzen, auch später in Hamburg. Suchte ich zuerst noch Anschluss an einen Hauskreis im Stil meiner frommen Herkunft, so war mir das bald zu eng. In der Studierendengemeinde im Karl-Jaspers-Haus fand ich den freien Geist, den ich brauchte. Die ersten Semester habe ich jeden Morgen gebetet, dass mir die Vorlesungen und Seminare nicht den Glauben rauben mögen. Es hat einige Semester gebraucht, bis ich diese Angst überwunden hatte.
Meine Wohnsituation verbesserte sich, als ich in die Pfaffengasse 4 einzog. Ein kleines Zimmer in einem alten schiefen Haus mit knarzenden Dielen. Aber mitten in der Altstadt am Neckar gelegen. Hier war das Paradies meines Studentenlebens. Das Theologische Seminar befand sich nur ein paar Straßenzüge entfernt, und schon beim Brötchenholen traf ich andere Geisteswissenschaftler und hatte schon die ersten Diskussionen.
Ich war so gierig nach Bildung. Warum habe ich eigentlich Theologie studiert? Um den Dingen auf den Grund zu gehen. Es stand alles auf dem Spiel. Entweder finde ich ein Gottvertrauen, das mich trägt, oder ich werde Atheist. Meine Frömmigkeit war ja erschüttert. In diese Enge des Glaubens gab es kein Zurück. Fast peinlich war mir, mit wie viel Naivität im Bibellesen ich aufgewachsen war, erst langsam ging mir auf, wie eng und ängstlich mein Weltbild war. Ich habe nicht vielen davon erzählt und auch jetzt fällt es mir noch schwer, davon zu schreiben. Gleichzeitig weiß ich, dass es heute noch viele gibt, die in dieser engen Frömmigkeit leben. Ich will sie nicht verachten und nicht beleidigen. Aber ich danke Gott, dass er mich von frommer Überheblichkeit bekehrt hat und von Angst befreit. Aber das war kein einfacher Weg.
Einmal kam ich einen Samstagabend wieder mit in die Gebetsstunde meiner alten Heimat. Da saßen wir 20 Leute im Kreis und beteten reihum. Wer mit Amen endete, dessen Gebet wurde von den anderen mit einem kräftigen Amen bestätigt. Als ich dran war und Worte suchte und auch fand – aber es waren andere Worte, als sie in der Gebetssprache der Gemeinde üblich waren – da endete ich mit Amen. Und nur mein Bruder bestätigte mit Amen, er war der einzige. Die anderen schwiegen. Da gab es kein Amen mehr. Sie ließen mich spüren, dass ich nicht richtig lag. Ich gehörte nicht mehr dazu. Das war ein eiskalter Ausschluss aus der Gemeinde, mit dem ich lange zu kämpfen hatte.
Später hatte ich noch einmal versucht, mit meinem Pastor zu sprechen. Ich brauchte ein Empfehlungsschreiben für die Liste der Theologiestudierenden meiner Landeskirche. Schließlich hatte ich meine ganze Jugend über ehrenamtlich im Kindergottesdienst, in der Jungschar und bei den sommerlichen Zeltmissionen auf den Campingplätzen mitgearbeitet. Mein Pastor redet freundlich im Gespräch, fängt an, in eigenen Erinnerungen aus seiner Studienzeit zu schwelgen, so als wäre er mir und meiner Erfahrungswelt ganz nahe. Am Tag darauf halte ich das Empfehlungsschreiben in meinen Händen. Es ist in einem neutralen Umschlag. Ich soll ihn weiterleiten an das Landeskirchenamt. Nun bin ich einfach zu gespannt und öffne das Dokument, um zu lesen, welche empfehlenden Worte der Mann findet, der meine geistliche Autorität in der Kindheit war. Die Zeilen enttäuschen mich. Ich kann es gar nicht fassen. Das ist keine Empfehlung. Das ist eine Absage. Da steht „für den Gemeindedienst nicht geeignet“. Allenfalls eine wissenschaftliche Laufbahn traut mir der Seelsorger zu, der mich und meine Familie so gut kennt. Das trifft mich hart.
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