Meine Mutter hatte ihren Vater niemals kennengelernt. Nach ihrer Geburt 1942 erreichte meine Oma Martha die Nachricht, dass der deutsche Besatzungssoldat, den sie im polnischen Lodz kennengelernt hatte, gefallen war. Nun stand sie alleine mit zwei Kindern, Gisela und Gismara. Gisela wurde ihr von den Nazis weggenommen und zur Adoption freigegeben. Gismara wurde bei Verwandten in Berlin untergebracht. Oma wurde 1915 noch im russischen Zarenreich in Bialystok geboren. Zeitlebens sprach sie ein merkwürdiges Deutsch mit ihrer eigenen osteuropäischen Grammatik. Wir Enkelkinder fanden das komisch und machten uns darüber lustig. Polnisch sprach Oma mit den alten Tanten bei unseren Familientreffen, wenn wir Jungen es nicht verstehen sollten. Die heranwachsende Generation wollte man nicht mit den finsteren Geschichten belasten. Ich war der einzige Enkel, der mehr wissen wollte über diese Zeit, aber Oma wollte meine Fragen nicht beantworten. Dass sie mit dem Berliner Opa nie verheiratet war und dass sie für die Deutschen Handgranaten zusammenbauen musste, war lange ihr großes Geheimnis. So sehe ich sie vor mir, Kartoffeln schälend. Eine gebrochene kranke Frau, kaum 1,50 groß mit einem verkürzten Bein als Folge von Kinderlähmung, das niemals heilen wollte. Oma war immer wieder wochenlang nicht erreichbar, in sich versunken und gefangen in ihrer Gedankenwelt irgendwo zwischen Bialystok, Warschau und Lodz unterwegs in den 1930er- und 40er-Jahren.
Meine Mutter erzählte mir, als ich erwachsen genug war, dass ihre Mutter nicht gut für sie sorgen konnte. Die kleine Gismara musste sich selbst durchs Leben kämpfen. Sie erzählte, wie sie nur ein Kleid hatte und die Schule schwänzen musste, wenn dieses Kleid gewaschen wurde. Solche Erfahrungen aus den Tagen des Mangels hatte sie mit meinem Vater gemeinsam. Ich habe Eltern, die selbst keine Geborgenheit in Familien erlebt haben, wie es Kindern zu wünschen wäre. Kurt und Gismara wollten eine Familie gründen und das miteinander verwirklichen, was sie selbst nicht kannten.
Beide wurden von Kurts ostpreußischer Ersatzfamilie aufgenommen, die eine stabile Frömmigkeit hatten und ihre Mission als Seelenretter ernst nahmen. Meine Eltern übergaben „dem Herrn Jesus ihr Leben“, wie es im frommen Sprachgebrauch heißt. Statt mit der Dorfjugend zu saufen und sich zu prügeln, lernte mein Vater Gitarre spielen und fromme Lieder singen. Meine Eltern gingen gemeinsam zur Stunde. Das war ein Gottesdienst in einer Hauskirche der sogenannten Altpfingstler, einer Glaubensgemeinschaft, die dem Wirken des Heiligen Geistes viel zutraut.
Oma Martha verweigerte vor Gismaras Volljährigkeit mit 21 die Zustimmung zur Heirat ihrer Tochter mit dem Tankwart. Er war ihr wohl nicht gut genug als Schwiegersohn. Aber das half nichts. 1963 heirateten meine Eltern mit bescheidenen Mitteln. 1964 wurde mein Bruder Burkhard geboren, 1965 kam ich zur Welt und 1968 meine Schwester Susanne. Meine Mutter war kaum 26 Jahre alt und hatte drei Kindern das Leben geschenkt. Als sich meine Eltern kennenlernten, so erzählten sie später, hatten sie zwölf Kinder haben wollen. Nachdem das erste Kind geboren wurde, reduzierten sie auf sechs. Und nach dem Dritten sagten sie: Es reicht.
Als Fünfjähriger wurde ich dann in die Hausstunden mitgenommen, bei denen ein Prediger vor kaum zwanzig meist älteren Damen stand. Es roch nach Mottenkugeln und nach Kölnisch Wasser. Wir mussten stillsitzen, der strenge Blick meiner Mutter ließ uns erstarren. Die sogenannte „Stunde“ dauerte viel länger als eine Stunde. Während sich die Predigt in die Länge zog, beeindruckte mich das Doppelkinn und die Nickelbrille des Predigers oder mein Blick betrachtete das Bild vom guten Hirten an der Wand. In seinem langen weißen Gewand unterließ der Heiland nichts, um ein verirrtes Schaf aus dem Dornengestrüpp zu retten. Die Gebete der alten Frauen beeindruckten mich tief. Jesus war der wichtigste Mann in ihrem Leben. Sorgen machte mir nur, wenn die in Ehren ergrauten Kriegerwitwen von der Heimat sprachen. Entweder war damit Ostpreußen gemeint – oder die himmlische Heimat, in die sie Jesus Christus abholen würde. Auf keinen Fall aber das irdische Leben in der Gegenwart, denn hier waren wir ja nur unstete Pilger. Als kleiner Junge machte mich das immer etwas traurig, die Alten so reden zu hören, war ich doch gerade erst auf dieser Erde angekommen und fand es hier manchmal ganz schön. Nach der „Stunde“ gab es Schokolade als Belohnung. Und für die Damen gab es Kaffee und Kuchen und manchmal einen Eierlikör oder einen Kirsch. Dann war das Leben doch für einen Moment irgendwie gut auf dieser Erde.
Meine Eltern müssen wohl gemerkt haben, dass die Stunden nicht gerade kindgerecht waren. Die Landeskirche war meinen Eltern zunächst nicht fromm genug. Aber 1970 kam ein junger Pastor ins Dorf, dessen baptistische Frau den Kindergottesdienst hielt. Das Ergebnis war, dass wir sonntags jetzt vormittags Kindergottesdienst und nachmittags „Stunde“ hatten. Unvergesslich sind mir die Fleißkärtchen des Kindergottesdienstes, wie große Briefmarken, mit gezähnten Rändern. Biblische Szenen waren altmodisch dargestellt. Den guten Hirten kannte ich ja schon. Nun wuchs mit jedem Besuch des Kindergottesdienstes meine fromme Bilderwelt: Arche Noah, Opferung Isaaks, Davids Sieg über Goliath, Daniel im Feuerofen, Jesus wandelt über das Wasser. Das waren meine Helden, während andere Jungs Comicfiguren wie Lucky Luke – der damals noch rauchen durfte – oder Superman verehrten. Nach ein paar Jahren Kindergottesdienst hatte ich alle Fleißkärtchen doppelt.
Schon früh war ich ein guter Sammler. Was mich viel mehr als Fleißkärtchen interessierte, waren Steine, besonders Fossilien. Ich hatte als Kind meinen Blick immer zu Boden gerichtet. Ich suchte, aber ich fand auch immer irgendetwas, dass zumindest ich interessant fand. Meine Mutter zischte nur: „Was wühlst du im Dreck. Schmeiß das weg!“ Aber ich versteckte meine Schätze und baute mir ein Museum daraus, dessen Direktor und einziger Besucher ich war.
Es war die Zeit der großbemusterten Tapeten und der Prilblumen, als ich 1971 eingeschult werden sollte. Um meine Schulreife zu beweisen, sollte ich ein Bild malen, während sich eine Lehrerin mit meiner Mutter unterhielt. Ich konnte immer schon gut malen und überreichte stolz mein Blatt. Es zeigte ein Haus mit freundlichen Gesichtern, die aus den Fenstern schauten, der Schornstein rauchte.
Das einzige, was die Lehrerin zu mir sagte, war: „Das war leider das falsche Händchen.“ Ich hatte das Bild mit links gemalt. Linkshänder konnte man nicht dulden. Ich wurde nicht eingeschult. Meiner Mutter wurde der Auftrag gegeben, mich umzuerziehen. Als ich der Lehrerin zum Abschied das richtige Händchen entgegenstreckte, war aus mir ein trotziger Junge geworden. Ein Jahr später kam ich dann in die Schule. 1972 wehte auch in der holsteinischen Dorfschule ein anderer Wind. Junge Lehrer kamen mit weiten Schlaghosen und Lehrerinnen mit kurzen Röcken. Und ich durfte mit links schreiben und malen. Ich habe aber diese Demütigung der Einschulung nie vergessen. Für mich war seit dieser Zeit klar, dass ich denen, die viel zu sagen haben, nicht immer vertrauen werde. Meine linke Hand hat mich ungewollt zum „linken Systemkritiker“ werden lassen.
Anfang der 1970er-Jahre begann meine Mutter zu arbeiten. Neben unserer Haustür wurde ein weißes Emailleschild mit einem rotem Kreuz angebracht. Hier war jetzt eine Sozialstation. Meine Mutter, examinierte Krankenschwester, hatte extra den Führerschein machen müssen, um mit einem weißen VW Käfer über Land zu fahren und in den zwölf Dörfern, die ihr zugeteilt worden waren, Alte und Kranke zu besuchen, Beine zu wickeln, Blutdruck zu messen, Blutegel anzulegen oder Menschen zu waschen, die dies lange schon nicht mehr selbst getan hatten. Mutter konnte immer Geschichten erzählen, wenn sie von ihren Touren nach Hause kam! Niemand hat die Schattenseiten des Landlebens so hautnah erlebt wie sie. Als Kinder waren wir es gewohnt, wenn sie von durchgelegenen