Um in den Himmel zu kommen, musste man sich bekehren – so haben wir das damals gelernt. Oder anders ausgedrückt: Sein Leben dem Herrn Jesus übergeben. Ich hatte es schon erlebt, wie Menschen sich schluchzend unter Tränen bekehrten, bereit zur Buße und öffentlichem Bekenntnis vor der Gemeinde. Aber was hatte ich als Heranwachsender schon zu bieten? Für so viele Sünden war doch noch keine Zeit.
Mit Unbekehrten sollte man besser keine Gemeinschaft haben – so wurde es uns geraten. Ich fand das immer etwas hart. War ich mal bei Schulfreunden zu Besuch und vergaß mich einen Moment im kindlichen Spiel, dann tauchte diese Warnung in mir auf: Das sind unbekehrte Weltkinder. Und ich wurde für einen Moment traurig durch ein Wissen, das ich nicht mit den anderen teilen konnte: Diese Kinder, die mich so fröhlich anlachen, gehen ewiglich verloren!
„Was habt ihr gemein mit der Welt?“ Das war so ein hartes Bibelwort, von denen es viele gab. Mit Weltkindern war kein Umgang angeraten. Es sei denn, um sie zur Bekehrung zu führen. Die „Ungläubigen“ mussten so werden wie wir. Wer andere zur Bekehrung brachte, der hatte bei Gott etwas gut. Aber je älter ich wurde, umso peinlicher fand ich es, die anderen bekehren zu müssen.
Mein ein Jahr älterer Bruder war mir immer in allem ein Stück voraus. Mathematik war seine Stärke, ich habe dieses Fach immer gehasst. Er kam aufs Gymnasium, für mich hatte man die Realschule vorgesehen. Unsere Eltern hatten beide nur den Hauptschulabschluss gemacht, auf der weiterführenden Schule konnten sie uns nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen. Was mein Bruder bekam, wollte ich auch bekommen. Die brüderliche Konkurrenz brachte mich dazu, alle meine Kräfte zu sammeln und meine schulischen Leistungen so zu verbessern, dass es für das Gymnasium in der Kreisstadt reichte. Man wollte es mit mir zumindest versuchen.
Im Religionsunterricht sollten wir einmal malen, wie wir uns Gott vorstellen würden. Die ganze Stunde saß ich vor dem weißen Blatt Papier und starrte es an. Bei den anderen Schülern sah ich schon bärtige Greise auf Wolken sitzen, als der Lehrer mich fragte, warum ich denn mit meiner Aufgabe nicht anfangen würde. Da nahm ich all meinen Bekennermut zusammen und sagte: „Du sollst dir kein Bildnis machen!“ Der Lehrer war unzufrieden mit mir, die Mitschüler grinsten ihr Dorfdeppengrinsen.
Schnell wurde ich zu einem Außenseiter. Ich habe es gehasst, von den grinsenden Rudeln der Jungen in meiner Klasse gedemütigt zu werden. Nicht dazu zu gehören, das war die Hölle. Ich hielt durch, aber in der siebten Klasse konnte ich nicht mehr.
Es war Sommer, wir Jungs fuhren die zwölf Kilometer Schulweg in die Kreisstadt mit dem Fahrrad. Unterwegs traf ich auf drei Mitschüler, die mir grinsend und feixend den Weg versperrten, mich anfuhren und schubsten. Ich weiß nur noch, dass ich nach vorne über den Lenker gestürzt bin. Als ich aufwachte, tasteten meine Hände instinktiv mein Gesicht ab und spürten das klebrige Blut. Ich muss auf eine Betonkante geflogen sein, auf der linken Wange war eine vier Zentimeter lange Schnittwunde, die genäht werden musste. Zwei Vorderzähne saßen locker. Ich sah als 13-Jähriger in den Spiegel, sah mein geschwollenes Gesicht und mir kamen die Tränen. „Niemals wieder werde ich heil und schön aussehen“ – das war mein erster Gedanke. Hass stieg in mir auf. Jesus hatte gesagt, dass wir nicht hassen sollen. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“, so hatte ich es auswendig gelernt. Aber jetzt spürte ich vielleicht das erste Mal den Hass – eine starke Kraft, die mir bis dahin unbekannt war. Ich musste, während mir die Tränen runterliefen, an die dummen grinsenden Jungengesichter denken, die den Unfall provoziert hatten. Und ich tat etwas sehr Böses: Ich nutzte meine guten Kontakte zu Gott und stieß einen Fluch aus. Jahre später, als ich schon vor dem Abitur stand, erfuhr ich, dass einer von den Dreien gestorben war, kaum volljährig geworden. Ich erschrak und bereute meinen Fluch. Als ein weiterer nach einer Dorfdisco schwer zusammengeschlagen worden war, betete ich nun darum, dass er es überleben möge. Er überlebte. Der Dritte hatte, wie ich Jahre später erfuhr, einen Laden aufgemacht und ging schließlich hochverschuldet damit pleite. Nie wieder würde ich jemanden verfluchen. Die Narbe in meinem Gesicht erinnert mich bei jedem Blick in den Spiegel daran.
Nachdem ich in der siebten Klasse sitzengeblieben war, hieß mich meine neue Schulklasse herzlich willkommen. Ich fühlte mich wohl und wurde nach einem Jahr sogar zum Klassensprecher gewählt. Der Direktor der Schule gehörte zu meinen Vorbildern. Er unterrichtete Religion in meiner Klasse. Ich spürte bei ihm immer einen Respekt vor dem Glauben, auch vor meinem Glauben. Deshalb vertraute ich ihm und hatte den Mut, ihm gedanklich zu folgen. Seine Spezialität war der interreligiöse Vergleich: Das Lamm bei der Pessach-Feier der Juden, das Osterlamm der Christen, das Lamm, das die Muslime zum Opferfest schlachten. Mir gefiel diese Verwegenheit, über den Horizont der eigenen Religion hinauszuschauen.
Biologie war eigentlich eines meiner starken Fächer. Aber mir grauste davor, als der Lehrplan die Evolutionslehre vorsah. „An sechs Tagen erschuf Gott, der HERR, die Erde. Am siebenten Tag ruhte er.“ Damit war ich in meiner Gemeinde erzogen worden. Und jetzt sollte ich an den Urknall glauben, an den Zufall, an den Affen als unseren Verwandten? Im Unterricht war ich dauerempört und unfähig, irgendetwas von dieser Irrlehre aufzunehmen. Ich brauchte meine ganze Energie, mich einem Märtyrer gleich, dem System zu verweigern. „Stellt euch nicht dieser Welt gleich“ – das hatten wir gelernt. Und in der Gemeinde hatten sie uns oft erzählt, dass es uns nicht wundern soll, wenn die Welt uns hassen wird. Als der Biologietest geschrieben wurde, erklärte ich dem Lehrer, warum die Evolutionstheorie eine Irrlehre war und was die Bibel lehrt. Ich bekam eine schlechte Note, aber Biologie blieb mein Lieblingsfach.
Mein Lateinlehrer war für mich der größte Gegner am Gymnasium. Wenn er von Cäsar im Gallischen Krieg sprach, dann wechselte er öfter zu General Rommel in Nordafrika. Mit dem hatte mein Lateinlehrer seine besten Jugendjahre verbracht und erzählte von dieser Zeit wie von einem Pfadfinderausflug. Vielleicht lag mir Latein einfach nicht, aber die entscheidende Blockade setzte dadurch ein, dass ich einmal dran kam und keine Übersetzung liefern konnte. Mein Lehrer wusste zu kommentieren: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Ich frage noch einmal nach, wie er es meinte, weil ich das so unfassbar verächtlich fand. Ja, ich hatte richtig gehört. Er meinte es so. Mein Vater bediente ihn an der billigsten Tanke Norddeutschlands, was hatte sein Sohn dann im Lateinunterricht zu verlieren?
Ich war tatsächlich das einzige Kind eines Arbeiters in meiner Klasse. Als mir das bewusst wurde, wollte ich mich erst recht nicht beugen. Vermutlich habe ich an diesem Lehrer den Großteil meiner pubertierenden Opposition abreagiert. Meine Eltern haben mich dann eher als still und verträumt erlebt. Als einen, der froh ist, in Ruhe gelassen zu werden.
Latein konnte man als Fach nicht abwählen. Ich hatte null Punkte und war dazu übergegangen, den Unterricht abzusitzen und dabei Karikaturen von meinem verhassten Lateinlehrer anzufertigen. In der Oberstufe musste bei jeder Zeugniskonferenz extra beschlossen werden, dass ich versetzt werde. Ich hatte anscheinend genug Lehrer auf meiner Seite. Meinem Lateinlehrer wollte ich es aber richtig zeigen. Er sollte nicht denken dürfen, ich sei dumm oder faul. Also fing ich an, Griechisch zu lernen. Unser Pastor und seine Frau hatten mit einigen Familien und einem Dutzend Jugendlicher Ende der 70er eine Griechenlandreise organisiert. In den 1980er-Jahren sollten weitere Gemeindereisen folgen. Das war Motivation genug. Neugriechisch wurde in der Volkshochschule unterrichtet. Und ich war mit vollem Eifer dabei, gemeinsam mit dem Pastor und seiner Frau. Meine Griechischlehrerin war eine imposante Erscheinung und rauchte während des Unterrichts eine Zigarette nach der anderen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihren rotlackierten Fingernägeln und ihrem rotgeschminkten Mund lassen. Zu meinem Erstaunen reagierte das Pastorenpaar, die immer mehr zu meinen zweiten Eltern wurden, ganz gelassen auf diese „sündige Erscheinung“. Schminke war in unserer Gemeinde verpönt,