„Genau, dass Gero Arnold und Dieter Knober Halbbrüder sind”, beendete ich seinen Satz.
„Und keiner weiß etwas vom anderen. Diejenigen, die das Rätsel auflösen könnten, sind tot. Sigurd Knober, seine Frau und auch Gisela Arnold. Falls das stimmen sollte, haben die drei das Geheimnis mit ins Grab genommen.”
„Was hältst du von einem Gentest?”, platzte ich heraus, ohne zu überlegen.
„Du spinnst. Was ist denn das für eine abstruse Idee? Erstens, wie sollten wir das den beiden verkaufen und zweitens glaube ich kaum, dass uns das im vorliegenden Fall weiterhelfen würde.”
„Weiß man`s? Da können doch ganz andere Dinge eine Rolle spielen.”
„An was denkst du?”
„Sigurd Knober war ein unverbesserlicher Alt-Nazi. Und sein Sohn ist der beste Beweis dafür, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt.”
„Da weißt du mehr als ich”, wunderte sich Carlo.
„Ich bringe dir nachher ein Buch rüber. Der Autor nennt darin Fakten und Namen aus der Zeit des Nationalsozialismus in Rheinhessen. Einige der Hundertprozentigen haben ihre Nachbarn denunziert, jüdische Mitbürger verraten und sich deren Eigentumangeeignet. Nach dem Krieg lebten sie unbescholten und hoch angesehen weiter. In dem Buch sind in diesem Zusammenhang auch Sigurd und Erna Knober genannt. Sie gehörten zu den Nazis der ersten Stunde, das kann man an der niedrigen Nummer ihrer NSDAP-Mitgliedschaft erkennen. Deren Druckerei in Alzey gehörte übrigens bis Anfang 1939 einem Natan Selig. Sigurd Knober war zu dieser Zeit Soldat und konnte sich gar nicht um den übernommenen Betrieb kümmern, das machten französische Kriegsgefangene. Die Aufträge bekamen sie von der Gauleitung Hessen-Nassau.”
„Weshalb hast du dich so intensiv mit Knober befasst, dass du seine braune Vergangenheit aus dem Ärmel schüttelst?”
„Anfang 1990, kurz nachdem ich die Kanzlei hier nach Bernheim umgezogen hatte, wollte eben dieser Sigurd Knober seinen Berater wechseln. Er wollte mir das Mandat übertragen. Aber er war mir irgendwie suspekt. Er machte ein paar fremdenfeindliche Bemerkungen, die mit meinem Weltbild kollidierten. Und du weißt, dass ich erst an zweiter Stelle an das Honorar denke. Die Chemie muss von Anfang an stimmen. Damit bin ich bisher gut gefahren. Außerdem hatte ich kurz zuvor das Mandat von Gisela Arnold übernommen. Ich wollte während der vertrauensbildenden Phase keine unnötige Störung riskieren. Aber das ist noch nicht alles.”
„Das wird ja eine abendfüllende Story”, spottete Carlo.
„Sagt dir der Name Peter Simonis noch etwas?”
„Klar doch, ich hatte ja damals als Betriebsprüfer oft genug mit diesem schwarzen Schaf aus unserer Zunft zu tun. Gott habe ihn selig, obwohl er ein Ganove war!”
(Simonis war 2003 unter paradoxen Umständen tot aufgefunden worden. Es war mein zweiter Fall, den ich als Hobbyermittler lösen konnte.)
„Siehst du. Simonis war Knobers Berater und ich wollte keinen Mandanten übernehmen, der mit einem solchen Berater garantiert einige Leichen im Keller verbuddelt hat.”
„Jetzt verstehe ich. Als du dann das Buch gelesen hast, ist dir natürlich der Name Sigurd Knober aufgefallen. Und Dieter Knober?”
„Ja, der steht ziemlich weit oben auf der Landesliste der NPD. Er sponsert unter anderem Plakate. Hast du noch nie die NPD-Plakate mit seinem Konterfei gesehen?”
„Ach, das ist er?”
Ich nickte bestätigend und Carlo atmete tief durch.
„Das ist ja …”, statt sein Einschätzung abzuschließen, schob er mir das Schriftstück, das er vorher seiner Mappe entnommen hatte, über den Tisch.
„Arnold und ich haben hier stichwortartig protokolliert, was während der letzten Jahre vorgefallen ist. Über Details unterhältst du dich am besten mit ihm selbst. Er ist übrigens sehr froh darüber, dass du die Angelegenheit in die Hand nimmst.”
„Wie, das hast du schon mit ihm vereinbart? Ohne vorherige Absprache mit mir?”
„Wie du siehst”, grinste er. „Betrachte es als Notwehr. Oder auch als therapeutische Maßnahme.” Er sah mich mit schief gehaltenem Kopf an. Dann verzog sich sein anfängliches Grinsen und ging in schallendes Gelächter über. Dabei zog sich seine Glatze in ein Faltengebirge. Es verlieh ihm die frappierende Ähnlichkeit mit einem Shar-Pei, diesem chinesischen Knautschhund. „Therapiemaßnahme finde ich gut”, freute er sich über sein Bonmot, blickte mich aber dann sofort wieder ernst an. „Du offenbar nicht?”
„Na ja, ich habe schon bessere komödiantische Ergüsse erlebt. Aber nicht von dir. Ziemlich laienhaft, aber dafür war es schon ganz gut. Einfach üben.”
Ich nahm das Protokoll vom Tisch, erhob mich und ging zur Tür. Dort drehte ich mich noch einmal um und wedelte mit dem Papier.
„Damit das von vornherein klar ist: Ich entscheide, wie ich vorgehe! Die Kompetenzen liegen bei mir”, bestimmte ich.
„Genauso, wie du die Verantwortung trägst. Bis hin zu etwaigen haftungsrechtlichen Konsequenzen. Du bist schließlich weiterhin Berufsständler und weißt, in welchem gesetzlichen Rahmen du dich zu bewegen hast.”
„Soweit es meine Verschwiegenheitsverpflichtung betrifft”, schränkte ich ein.
„Klar doch. Bei allem anderen bist du ja sowieso nicht zu bremsen. Ich sage nur Hausfriedensbruch, Fälschung von Dokumenten, Zurückhaltung von Informationen bei der Staatsanwaltschaft und so weiter.”
„Wenn du auf die Mittel anspielst, derer ich mich ab und zu bei der Aufklärung bedienen musste, dann solltest du dabei aber nicht vergessen, wie erfolgreich diese den Zweck heiligten. Immerhin habe ich in den letzten sieben Jahren mehrere unnatürliche Todesfälle und eine Entführung aufgeklärt, Familien zusammengeführt und nicht zu vergessen … ach, was rede ich denn. Ich muss mich doch vor dir nicht rechtfertigen.”
„Deine Erfolge ändern nichts daran, dass du dich abseits der Legalität zu bewegen pflegst. Und ich habe den Eindruck, dass dir das sogar Spaß macht.”
„Alles Definitionssache”, frotzelte ich.
„Wie belieben?”
„Nimm nur mal das, was du in deinem konservativen Sprachgebrauch als Hausfriedenbruch bezeichnest. Was für ein böses Wort! Für mich handelt es sich dabei nur um eine banale Besitzstörung. Und das, was du Dokumentenfälschung nennst, ist in Wirklichkeit eine legale Eigeninterpretation.”
„Ach ja. Und Informationszurückhaltung nennst du dann wohl selektive Kommunikation.”
„Siehst du, du hast es kapiert. Das klingt nicht nur schöner, sondern es handelt sich auch nicht um strafbare Tatbestände.”
„Nach deiner Auslegung, Darius. Wenn es nicht deinen Freund Heribert Koman, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar bei der Polizeiinspektion Alzey gäbe, hätte man dich schon zig Mal am Kanthaken gekriegt.”
Carlos abwertende Handbewegung brachte mich wieder in die Realität zurück und ich verließ ohne weitere und zwecklose Erwiderung sein Büro.
Im ehemaligen Prüferzimmer war eine Art Notarbeitsplatz für mich eingerichtet. Ein Schreibtisch voller Prospekte und Fachzeitschriften, dahinter ein Sessel für mich und davor einen für eventuelle Besucher, eine Schreibtischlampe, ein Bildschirm, den ich an meinen Laptop anschließen kann, ein alter Drucker, ein antiquiertes Regal mit ebensolchen Fachbüchern und anderen Druckwerken. Dieses Ensemble kennzeichnete auf eindrückliche Art meine berufliche Endstation. Ich ließ mich in den Sessel fallen. Das Schriftstück mit der Problem-Chronologie der BEWAG GmbH ließ ich auf die Tischplatte flattern. An der Wand gegenüber hing, kostbar eingerahmt, meine Bestallungsurkunde.
„1976,