Flüsterasphalt. Horst Pukallus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Horst Pukallus
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783957770448
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noch als Videokonferenzen statt.

      Klipp und klar redete die Ministerin Tacheles mit den Leuten: Am besten sollten sie gar keinen Alkohol mehr trinken. Wegen der Volksgesundheit. Aber künftig auf gar keinen Fall mehr in der Öffentlichkeit. Wegen des allgemeinen Anstands, des Vorbilds für die Kinder und der öffentlichen Sauberkeit. Zahllose Bürgerinnen und Bürger hätten es so gewünscht. (Diese Behauptung stimmte zwar nicht, die Ministerin jedoch wusste genau, was die Bürgerinnen und Bürger zu wünschen hatten.)

      Die Ministerin hörte der eigenen Ansprache gerne zu; sie flößte ihr Zufriedenheit ein. Ihre Worte klangen mütterlich-fürsorglich, als ginge es darum, Kindern die Folgen übertriebenen Verzehrs von Süßigkeiten zu erläutern. Auch das Bild behagte ihr: Dank der megamorphischen BeautyficationSmartware hatte sie Idealmaße und eine augenfällige Ähnlichkeit mit Kate Beckingsale, von der niemand mehr wusste, dass sie einmal eine Vampirin gespielt hatte. Schon von Kindheit an hatte die Ministerin gerne Vampirfilme gesehen. Leider hatte sie kürzlich bei Wikipedia über die Stamokap-Theorie der 70er und 80er Jahre recherchiert und dort Äußerungen über den parasitären Charakter des Staates gelesen. Da hatte sie sich auf seltsame, ja wohl auch absurde Weise ertappt gefühlt. Seither mochte sie von Vampiren nichts mehr wissen. Der bloße Gedanke daran verdarb ihr die Laune.

      Nach einem abschließenden Appell an Vernunft und Einsichtsfähigkeit der »lieben Mitbürgerinnen und -bürger« wich die Aufnahme einer Übersicht des pfiffig gestaffelten Bußgeldkatalogs für Alkohol-Ordnungswidrigkeiten. Um eine wirksame Abschreckung zu erreichen, hatte die Ministerin die Bußgelder recht hoch angesetzt.

      Von da an klappte alles wie am Schnürchen. Aufgrund ihrer Anordnung, ihr die krassesten Missetäter persönlich vorzuführen, erhielt die Ministerin kurz darauf eine SMS des Ordnungsamtseinsatzleiters, der zufolge das fein differenzierte AP-Bewertungsraster vier Alkoholextremisten erkannt hatte: Eine Paniktrinkerin, einen Amoktrinker, einen Gamma-Alkoholiker und einen Exzesstrinker. Letzterer hatte einen Blutalkoholspiegel, wie man ihn im Normalfall nur bei Leichen ermittelte. Sogar ein Raucher war gestellt worden. Ein dermaßen verantwortungsloses Subjekt wie einen Nikotinknecht indessen mochte die Ministerin sich nicht einmal von Weitem besehen.

      Durch das erneute Warten ergab sich nochmals eine gewisse Anspannung, die die Ministerin sehr stresste. Sie dachte an Brathähnchen mit Spinatfüllung und Kroketten. Und Aprikosenkompott.

      Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis die Ordnungsdienstler die vier VersagerInnen vorführten. Soeben hatte sich der Staatssekretär im Wagen wieder auf selbstverzwergende Weise in die Ecke gedrückt, der Fahrer hinterm Lenkrad Platz genommen, da wurden sie von acht bulligen Ordnungskräften neben der Limousine aufgereiht wie eine Gruppe von Delinquenten. Und aus der Sicht der Ministerin hatten sie tatsächlich einen präkriminellen Status.

      Aus Triefaugen stierte das Quartett des Grauens, die Bußgeldbescheide, die banalen Kassenzetteln glichen, schon in den zittrigen Säuferklauen, die stattliche Staatskarosse an. So ein Auto hatten sie bestimmt noch nie aus der Nähe gesehen. In dem Vorsatz, ihnen ein richtig sauschlechtes Gewissen zu machen, schaltete die Ministerin das Bordmikrofon ein. Die nanomultifunktionale Autoglasbeschichtung der Seitenscheibe zeigte die gleiche beautyficierte Version der Ministerin wie vorhin die Großbildwand.

      Die Ministerin hielt den völlig entgeisterten Alkoholwracks wegen ihres asozialen und krankenkassenfeindlichen Verhaltens eine gehörige Standpauke. »Sie müssen doch wissen«, sagte sie zum Schluss, »dass Alkoholkonsum Schuppenflechte, Verfolgungswahn, Gedächtnisschwund und vorzeitige Ejakulation verursacht.«

      Niemand wagte ein Widerwort zu stammeln.

      Damit war die Aktion abgeschlossen. Vor der Großbildwand zerstreute sich die Menschenmenge, sämtliche Ordnungskräfte marschierten ab, die Bußgeldpflichtigen durften ihres traurigen Weges ziehen. Zwar gab es vereinzelt noch lebhafte Diskussionen, im Wesentlichen jedoch normalisierte sich die alltagskarnevalistische Situation auf dem Bahnhofsvorplatz. Von Neuem geriet die öffentliche Kontaktbörse in Schwung, die Tussengangs setzten den Zickenkrieg fort, die Elendigen fügten sich samt und sonders erneut ins waiting for the man, und wieder dröhnte Trommelklang. Auch weiter verlief alles so wie auf einem gewöhnlichen deutschen Bahnhofsvorplatz.

      Was für eine Hammelherde, dachte die Ministerin. Also wirklich, spränge jemand so mit mir um, ich würde vor Wut kotzen.

      Ungeachtet der Anfangsschwierigkeiten fühlte sich die Ministerin mit der heutigen Premiere hochzufrieden. Auch die psychosensitiven Nanofasern ihres SmartClothes-Hosenanzugs Marke Nano Magnat spürten es, während die Limousine auf die Straße fuhr, und er nahm für ein Momentchen die Koloratur eines Pfauenschwanzes an. Darin erblickte die Ministerin sogar ein gewissermaßen wahres Wunder.

      Auf der Heimfahrt aber – um 14 Uhr 30 musste die Ministerin sich in ihrer Villa einer voraussichtlich wieder einmal total strapaziösen Videokonferenz zuschalten – trübte sich nach einer Weile ihre Stimmung. Sie dachte an die Erniedrigung, die ihr abermals bevorstand, heute zum zweiten Mal: Infolge ihrer Korpulenz konnte sie den Dienstwagen nicht durch die Türen besteigen oder verlassen. Vielmehr musste das spezialgefertigte Dach abgeschraubt werden, dann hob ein Kran sie hinein oder hinaus. Sie dachte an die demütigende Prozedur, die sie erwartete, an die scheußlichen Minuten der Entwürdigung, die verstrichen, bis der Kran sie auf der Gartenterrasse absetzte. Plötzlich war sie den Tränen nahe. Zwar aktivierte der Bordcomputer die Aromaspender, linderte mit aerosolförmigen Benignatoren den Kummer der Ministerin, aber noch einige Zeit lang verspürte sie einen dumpfen Groll, der sie quälte wie wetterfühlige Hornhaut am dicken Zeh.

      Vor einer Kreuzung verlangsamte der Fahrer die Limousine, um abzubiegen. An der Ecke stand eng umschlungen ein Pärchen und küsste sich. Dieser Anblick verdross die Ministerin. »Widerlich, dieses pubertäre öffentliche Rumgeknutsche«, meinte sie in bissigem Tonfall. Manchmal nahmen die Belästigungen einfach kein Ende.

      Anscheinend hatte ihre Bemerkung über Gedächtnisschwund sich dem Staatssekretär nachhaltig eingeprägt. Er entrollte sein Palmtop und schrieb eine Notiz.

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