Weil er dem Gefasel Dr. Schratz’ lauscht, übersieht er fast die Nachbarin. Sie wartet vor ihrer Tür auf ... auf ihn?
Broder wird durch ihren Anblick gänzlich entgeistert. Beinahe latscht er an seiner Wohnung vorbei in die Richtung des Glaserkers am Ende des Korridors. Ihr Gesicht ist verquollen. Die Augen haben dunkle Ränder. Senkrecht presst sie die Arme dicht an die Seiten. Die geballten Fäuste bezeugen einen inneren Hochdruck, als sei sie ein Atomreaktor kurz vor dem GAU. Sie wirkt, als hätte sie die Nacht auf einer Folterbank verbringen müssen.
Was ist denn jetzt los?
Mit mir kann es nichts zu tun haben, schlussfolgert Broder. Aber er muss sich schleunigst um sie kümmern. Sie in solchem Befinden zu sehen, krampft ihm das Herz zusammen. Hätte er gar nicht von sich vermutet.
Anscheinend haben sie dringende Fragen zu regeln, bevor sie zum Bumsen kommen. Der DVD-Brenner wird erst morgen da sein. Also will er ihr vorschlagen, heute gemeinsam etwas zu unternehmen. Er könnte sie zum Essen einladen. Ins Le Mouton um die Ecke. Allerdings muss er vorher diesen Quatschkopf abwimmeln.
»Natürlich, Herr Dr. Schratz«, sagt er, obwohl er dessen letzte Äußerungen überhaupt nicht beachtet hat. Und legt die Hand aufs Handymikro. »Wir sprechen uns gleich«, tuschelt er der Nachbarin zu; forscht besorgt in ihrer Miene. Verstörtsein. Zerrüttung. Abweisung.
Scheiße, was ist denn nur passiert?
Nur mit stärkstem Widerstreben schließt er hinter sich die Wohnungstür. Wenn das Telefonat mit Dr. Schratz beendet ist, wird er sofort zu ihr gehen.
Quäkquäk, dringt es aus dem Handy. Quäkquäkquäk.
Broder schmeißt die Aktentasche auf die Couch. Streift das Jakko ab. Geht zur Balkontür. Schwingt sie weit auf, um Frischluft einzulassen.
Und nun: auf die Knie.
»Herr Dr. Schratz«, sagt er, »es tut mir leid, falls ich etwas Missverständliches von mir gegeben habe. Bitte entschuldigen Sie meine Ungeschicklichkeit.« (Knirsch.) »Zur Erklärung kann ich nur anführen, dass ich meine gesamte Arbeits- und Geisteskraft in den Dienst des Projekts stelle und darum vielleicht manchmal zu abgeschlafft bin, um die richtige Wortwahl zu treffen. Bitte glauben Sie mir, ich habe keinerlei Absicht, mir Ihre fachliche und berufliche Kompetenz anzumaßen oder Ihnen etwa gar Vorschriften machen zu wollen ...«
Derartiges Gewinsel ist es wohl, was Dr. Schratz zu hören wünscht. Grummelig lenkt er ein. Verabschiedet sich bis zur Videokonferenz um 22 Uhr.
Broder trennt die Verbindung. Laut stöhnt er und legt das Handy auf das Jakko.
Neben der Workstation tönt plötzlich auf dem Parkettfußboden das Telefon. Broder stöhnt ein zweites Mal.
Anrufer: Dr. Lubok. Will wissen, ob Broder sich inzwischen mit Dr. Schratz »in gütliches Einvernehmen gesetzt« hat.
Jedes Ringen ums Seelenheil, das hatte Heliane Norina im Laufe des Tages eingesehen, folgte einer besonderen Logik. Genau deshalb musste es so sein, dass ihr nichts erspart bleiben sollte.
Gott gab ausschließlich Hilfe zur Selbsthilfe. Der Dämon griff nach ihr mit unsichtbaren Klauen, und ihm galt es in den Arm zu fallen. Mit eigener Hand hatte sie die Befreiung zu erwirken. Und befreien musste sie sich: Nie hatte die Tyrannei der Affekte sie unerbittlicher als gegenwärtig in den Krallen gehabt. Ihre heutigen Qualen sprengten bei Weitem die Grenzen ihres Leidensvermögens. Sie konnte unmöglich irgendwelche Sünden verüben, die ihr fürchterlichere Strafen eintrugen als das Martyrium, das sie während der vergangenen Stunden hatte durchleiden müssen.
Als sie zermartert und völlig erschöpft gegen Mittag erwachte, war ihre Situation schlimmer als zuvor gewesen; die sünd- und suchthafte Brunst zerwalkte ihr Fleisch noch ärger als in der Nacht. Stundenlang hatte sie keine Macht mehr über die Leidenschaftlichkeit ihres Begehrens gehabt. Halbstündig masturbierte und computerbeichtete sie, masturbierte und beichtete, masturbierte, beichtete, masturbierte, beichtete. Die Geilheit verwickelte sie in einen Teufelskreis katholischer Nothilfe. Sie schmachtete nach endloser Sinnlichkeit und lechzte zur gleichen Zeit nach einem Ende mit Schrecken.
Sie hatte ihr Zeichen erhalten. Aber ein Zeichen für etwas Anderes.
Als ob ihr jeder eigene Wille fehlte, hatte es sie am frühen Abend wieder hinaus in den Korridor getrieben.
Und abermals war sie dem Dämon begegnet. Wie irgendein harmloser Mitmensch hatte er das Handy ans Ohr gehalten und sie aus Unschuldsaugen angeblickt. Doch die Emanationen des Handys hatten auf ihren Wangen wie der Brodem eines Teerkessels geglüht - und das Blendwerk entlarvt. Denn mit einem Mal lohte ein grünes Leuchten, brandig wie ein Kuss der Hölle, aus dem Handy, und in diesem Licht hatte das Engelsgesicht seine wahren Züge gezeigt, die Fratze eines Seelenverschlingers.
Heliane ersah mit aller Klarheit, was sie zu tun hatte. Sie musste zu ihm gehen. Das Heil lag in ihrem Handeln.
Auf dem Umweg durch die Küche sandte sie dem Himmel Stoßgebete. Lieber Gott, steh mir bei. Hilf mir, o Gott. Führe meine Hand. Lass mich nicht im Stich.
Sobald ihre Bestimmung feststand, geschah alles wie von selbst. Ihre Entschlossenheit beförderte sie sicheren Schritts durch den Korridor. Fest drückte sie die Klingeltaste.
Als er die Tür öffnete, hatte er das Telefon in den Händen. Er lächelte, aber er konnte sie nicht mehr täuschen; sie erkannte hinter seiner Heuchelei die Seelenlosigkeit des Heiden oder Dämonen oder Unholds oder Herzausreißers.
»Kommen Sie rein«, sagte er und wich zur Seite.
»Gern«, beteuerte Heliane. Unerschrocken strebte sie in den Orkan der Strahlen, in dem Elektrophile zu leben pflegten. So leicht, als hätte sie Schmutz von der Haut gewaschen, hatte sie sich aller Furcht entledigt. Führe meine Hand.
Sie war zu schön, diese Aussicht auf Rettung, die Gewissheit des Heils. Ihrem Herzen flossen Kraft und Selbstvertrauen aus ihrer Faust zu; herauf aus der Härte und Schärfe des flach an ihr Bein gedrückten Filetiermessers.
Letzte Trendansage
Ich will mir eine fürchterliche Zerstreuung machen.
Schiller: Die Räuber
Als die Ministerin, in Gedanken eigentlich bei der Perlhuhnbrust in Wirsingsoße, die sie für den Abend bei ihrer Köchin in Auftrag gegeben hatte, aber stark abgelenkt durch den Latexpenis ihres mit Minineuronalnetzen ausgestatteten Orgasmusslips, der ihr gegenwärtig die Scheidenmuskulatur massierte, durchs polarisierte Seitenfenster der gepanzerten Staatskarosse einen Blick ins Freie warf, überschaute sie im Ozon-Sommersmog einen Querschnitt der pseudoexotischsten Zeitgenossinnen und -genossen, eine kolossale Ansammlung von Alltagskarnevalisten, allesamt wohl brauchbare KandidatInnen für die Talkshow Hausfrauen fragen – Perverse antworten: Dauergäste der öffentlichen Kontaktbörse, Prostituierte sämtlicher Geschlechter, Penner, Schulschwänzercliquen, Obdachlose, Herumsteher, islamische sprechende Mumien, eine Blondine im Kosakenrock, Rollstuhlfahrer und sonstige Amputierte, Zigarettenmafiosi, ein Häuflein Elender waiting for the man, Tussengangs, einen Jesus-Adoranten mit vergilbtem Pappschild (Slogan: Errichtet 1en Damm d. Gebets geg. d. Schmutzflut d. Höllenmächte), diverse Möchtegern-Ayatollahs und wahrhaftig auch ein paar Reisende, alle fast ausnahmslos erkrankt an Telefonitis. Durch die Sicherheitsglasscheiben der Limousine drangen gedämpft Stimmengewirr in hundert Sprachen und Trommelklang, bildeten die Geräuschkulisse eines gewöhnlichen deutschen Bahnhofsvorplatzes.
Manchmal blieben Leute vor der seitlich des Bahnhofsvorplatzes entrollten Großbildwand stehen, die noch kein Bild zeigte; sie staunten sie einige Augenblicke lang an, dann wandten sie sich merklich enttäuscht ab, als hätten sie sich ein unterhaltsameres Spektakel erhofft. Noch eine Verarschung, sagten ihre gebeugten Schultern.
Abgestoßen durch die Sodom-und-Gomorrah-Szenerie wandte die Ministerin die Augen ab und heftete sie auf den linken Ärmel ihres traditionell rotstiftroten SmartClothes-Solarenergie-Hosenanzugs Marke Nano Magnat. Sofort