Die Einsamkeit außerhalb der Schule und seiner Integrationsklasse machte Fedor zu schaffen. Das Haus lag abseits der Stadt und der Vater war oft nicht da. Fedors beste Freunde wurden ein Android-Tablet und ein Computer, seine medialen Kontaktstellen zur Außenwelt.
Anatolij Sorokin erhielt im SEK neue Aufgaben, da sein Sohn nun selbstständiger und älter geworden war. Während er bislang meist irgendwelche unbedeutenden Aufgaben im Personenschutz zu lösen gehabt hatte, erhielt er mittlerweile komplexere Aufträge. Rattner riet ihm, sich beim MEK – dem Mobilen Einsatzkommando – zu bewerben, das, im Gegenteil zum SEK, direkt der Kriminalpolizei unterstellt war. Das passte aber den Vorgesetzten Sorokins vom SEK nicht, das in Sachsen der Landespolizeidirektion Zentrale Dienste unterstellt war. Die wollten einen guten Mann wie Sorokin nicht so einfach abgeben. Die Ameise war in der internen Hierarchie des SEK aufgestiegen und hatte bereits einige brisante Einsätze geleitet, zum Beispiel einen gefährlichen Einsatz während eines Bankraubs mit Geiselnahme in einer sächsischen Kleinstadt. Ironischerweise hatte ihn dabei auch eine MEK-Einheit unterstützt. Letztendlich lebte Sorokin häufiger mit verstecktem Gesicht als mit offenem.
Fedor bekam die Mehrarbeit des Vaters zu spüren. Normalerweise ersetzte ihm der körperliche Kontakt jeden Blickkontakt sehender Menschen. Er genoss es, wenn seine Hand von der des Vaters gehalten wurde, während er dessen Gesicht erfühlen durfte, wenn der Vater abends am Bett seinen Kopf streichelte. Außerdem fehlte dem Jungen die Kommunikation. Er liebte es, Fragen zu stellen und schaffte es, auf jede Antwort eine neue Frage zu finden, vor allem dann, wenn er etwas nicht gänzlich verstand. Der Junge lauschte oft den Nachrichten oder populärwissenschaftlichen Sendungen im Fernsehen und im Radio, ließ sich von einer computergenerierten Stimme seitenweise Informatives aus Wikipedia vorlesen und fand stets und ständig fragwürdige Dinge, die einer weiteren Erklärung bedurften. Der Drang, seine dunkle, graue Welt vollends zu erfassen, war immens. Und nebenbei schwang stets und ständig ein wenig Angst um den Vater in Fedors Gedanken mit, die sich mit der Dauer der Abwesenheit Sorokins deutlich steigern konnte.
Dieser Donnerstag vor dem Osterfest war einer jener Wartetage. Die Schule war frühzeitig beendet, der Bus brachte ihn schnell nach Hause und das Wetter sperrte Fedor ein. Zudem war er angespannt, denn sein Vater hatte versprochen, in der Ferienwoche nach Ostern Urlaub zu nehmen und mit Fedor zu verreisen. Wohin es gehen sollte, hatte er allerdings noch nicht verraten.
Der Junge angelte ein zweites Paar Ohrhörer aus einer Halterung neben dem Bett, berührte die Knöpfe seines Android-Tablets und lauschte den Worten eines Sprechers, der einen weltbekannten Thriller vorlas. Dem Sprecher gelang es allerdings nicht, die Spannung hochzuhalten, so dass Fedors lange schwarze Wimpern mit den Augenlidern allmählich die dunklen Pupillen seiner defekten Augen verdeckten. Er schlief nur so lange ruhig, bis ihn die Träume in eine Welt der Erinnerungen schickten, die für unablässige Bewegungen seiner Mimik und für das Zucken seiner Gliedmaßen sorgten.
*
Artjom, der Riese, packte ihn, trug ihn unterm Arm wie ein Plüschtier und rannte in den engen Duschraum. Er zerrte ein Gitter aus der Halterung. »Geh da hinein! Kriech, so weit es geht! Und sei ganz still!« Fedor kroch in den engen Schacht, der aufwärts führte, erfühlte die breiten Fugen und stemmte Rücken und Füße gegen die Wände. Stück um Stück kroch er aufwärts, hielt sich irgendwo an einem rostigen Eisen fest. Und wenn die Kräfte nachließen, zog er sich mit Klimmzügen höher und kroch weiter. Fedor hatte das Ende des Schachtes und das seiner Kräfte erreicht. Schüsse krachten! Der Schacht endete in einem Blechaufsatz auf dem Dach des Hauses, der ein letztes Mal abbog und dann von einem Gitter verschlossen war. Der Junge quetschte sich in dieses Ende und lauschte. Wind pfiff in den Schacht, doch zwischendurch hörte Fedor deutliche Stimmen, denn auf dem Dach waren mindestens zwei Männer! Schritte trampelten auf dem Dach herum. Fedor hielt die Luft an. Er zuckte zusammen, als erneut mehrere Maschinenpistolen gleichzeitig ratterten. Unzählige Salven steigerten Fedors Angst. Eine Pistole knallte und Fedor brüllte innerlich. Tränen liefen über seine Wangen, sein Herz raste. Dann herrschte plötzlich Ruhe, Stimmen und Schritte auf dem Dach vor Fedor waren nicht mehr zu hören. Die Zeit verging, viel Zeit. Der Junge wagte noch keine Regung. Doch dann krochen erste Rauchgase durch seine Nase, drangen in die Lunge vor, drohten ihn zu ersticken. Sirenen von Rettungswagen erklangen. Schweiß ertränkte Fedor im engen Schacht, er verspürte die beklemmende Atemnot, hustete und prustete. Der Schacht saugte heißen Qualm aus der brennenden Wohnung weit unter ihm. Mit aller Kraft trat Fedor gegen das Gitter, das endlich nachgab und über das Dach davonflog. Er kroch hastig aus dem Schacht, eingehüllt in eine Wolke Qualm, Hustenanfälle zerrissen fast seinen Brustkorb. Fedor erhob sich auf die Knie. Er wagte es nicht, sich auf dem Dach zu bewegen. Dann aber hörte er eine Stimme: »Komm her, Junge! Schnell!« Flammen loderten, die Luft kochte. »Ich kann doch nichts sehen!«, brüllte Fedor mit letzter Kraft. Er klickte hektisch, setzte die Echoortung ein, um den Abgrund des Flachdaches zu finden, kroch über das flache Dach in Richtung der fremden Stimme. Schließlich griff er ins Leere und stürzte vom Dach in eine unendliche Tiefe. Er stürzte so lange, bis er endlich eine vertraute Stimme vernahm.
*
»He, mein Schatz. Ganz ruhig. Du hast wieder geträumt.« Sorokin saß auf der Bettkante und strich schwarze Locken aus der schweißgetränkten Stirn seines Sohnes. Er sprach in der russischen Muttersprache, was er oft tat, damit Fedor diese Sprache besser beherrschen lernte. Deutsch sprach der Junge ohnehin perfekt, er verbesserte oft sogar das Deutsch des Vaters. »Khorosho. Khorosho. Alles ist okay.«
»Papa«, flüsterte Fedor und ergriff die Hand des Vaters, als wollte er sie niemals wieder loslassen.
»War es wieder der verfluchte Brand in Moskau?«
»Es ist immer der gleiche Traum. Ich wache meistens auf, wenn ich von diesem blöden Dach falle.«
Sorokin lächelte. »Du bist aber nicht gefallen. Die Feuerwehrleute haben dich gerettet, meine kleine Zuckernase.« Mit dem Zeigefinger der linken Hand stupste er Fedors Nase.
»Das sollst du nicht sagen«, flüsterte der Junge und zog sich am kräftigen Arm des Vaters hoch. »Ich habe Durst.«
»Warum darf ich dich neuerdings nicht mehr ›Zuckernase‹ nennen?«, fragte Sorokin erstaunt. »Ist es dir peinlich?«
»Weil das nur Mama durfte«, raunte Fedor. Und er setzte flüsternd hinzu: »Und Jekaterina vielleicht. Die darf es auch.«
»Du denkst manchmal an Katie?«
»Oft.« Fedor kuschelte sich an den Vater, als wäre er wieder der kleine Junge von vor zehn Jahren. »Ich mag sie sehr. Schade, dass sie nie anruft.«
Kurz darauf saß der Junge am Küchentisch und wartete auf die Bedienung durch Sorokin.
»Wohin fahren wir in den Ferien?«, fragte Fedor schließlich.
»Zu den Eskimos.«
»Wirklich?«
»Natürlich nicht. Wohin wir fahren? Das ist ein Geheimnis«, antwortete Sorokin und goss sich einen kleinen Wodka ein, »das ich noch ein wenig für mich behalten will.«
»Was hast du heute gemacht?«
»Papierkram.«
»Papierkram? Und was für einen Papierkram?«
Sorokin trank den Wodka aus und verdrehte die Augen. Die Fragerei hatte begonnen und es würde kein Zurück mehr geben. »Ich musste den Bericht vom Einsatz am Dienstag schreiben.«
»War das der peinliche Einsatz mit dieser Oma?«
»Was ist, wollen wir Currywurst essen?«
»Von mir aus Currywurst. War das nun der peinliche Einsatz mit der Oma?«
Sorokin nahm zwei Packungen mit Mikrowellen-Wurstscheiben in Tomatensoße aus dem Kühlschrank,