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Dass Fedor nur noch selten lachte, dass er vielfach strauchelte und stolperte, dass sich seine Wutanfälle häuften, all diese Dinge waren dem Vater selbstverständlich nicht entgangen. Fedors Stimme veränderte sich allmählich, wurde tiefer, war ständig etwas heiser und überschlug sich oft. Doch machte die Stimme ihm ebenso wenig zu schaffen wie die meisten Veränderungen an seinem Körper. Ihn behinderten ganz andere Probleme: Fedor war in den letzten Monaten derart in die Höhe geschossen, dass er sich bereits der Einmeterachtzig-Marke näherte. Arme und Beine wirken am schmalen Körper lang und schlaksig, womit eingefahrene Bewegungen und gewisse gewohnte Abstände und Entfernungen einfach nicht mehr stimmten. Sein moderner Blindenstock, mit dem er einige Jahre bestens zurechtgekommen war, wurde zu kurz und musste eines Tages durch einen neuen Langstock ersetzt werden.
Trotz all der negativen Tendenzen in dieser pubertären Übergangsphase stellte Anatolij Sorokin häufig fest, dass sich sein Sohn auch positiv entwickelt hatte.
Fedor sah mit Hilfe seiner perfektionierten Echoortung und er bewegte sich oft schnell und sicher durch völlig unbekanntes Terrain. Das Schnalzen der Zunge optimierte er ständig, Fremde hörten es fast nicht mehr. Zeitig, bereits in frühester Kindheit, hatte der Junge die aktive menschliche Echoortung erlernt, das Klicksonar, wobei dezente Klicklaute seiner Zunge jeweils einen Schall aussendeten. Das von Gegenständen oder Hindernissen ausgehenden Echo des Klicklautes wurde sogleich im visuellen Kortex seines Gehirns ausgewertet. Über die Echos konnte Fedor Objekte bereits in einer Entfernung ab zirka zwanzig Zentimetern interpretieren. Er benutzte zwei oftmals schnell wechselnde verschiedene Klickformen. Für die unmittelbare Nähe einen schwachen, hohen Knall, den er vorn am Gaumen mit breiten Lippen erzeugte und der wegen seiner kleinen Wellenlänge eine hohe Auflösung entstehender Abbildungen ermöglichte, und einen am hinteren Gaumen erzeugten kräftigen und lauten Klick durch seinen geöffneten und zu einem O geformten Mund. Mit diesen, von seinen Mitmenschen deutlicher zu vernehmenden Klicklauten sah er Objekte in größerer Entfernung, diese allerdings in geringerer Auflösung. Der Schall wurde von den verschiedensten Materialien so reflektiert, dass Fedor ihn unterscheiden und den richtigen Oberflächen und Materialien zuordnen konnte. Häufig hatten Fedor und sein sehender Vater spielerisch die Entfernung verschiedener Bäume oder Gegenstände geschätzt. Und siehe da, Fedors Schätzungen waren wesentlich genauer gewesen.
Mit der ständigen Nutzung des Klicksonars und wegen seiner hohen Begabung gelang es Fedor, die absichtlich erzeugten Echosignale von anderen akustischen Quellen zu isolieren. Mittlerweile beherrschte er die Echoortung so ausgezeichnet, dass er viele Echos – auch die von fremden passiven Schallquellen – in Bruchteilen von Sekunden intellektuell verarbeiten konnte. Somit trennte sein Gehirn die Schallwellen in zwei unterschiedliche Gruppen. Normale Umgebungstöne wurden als solche vom Gehirn als gehörte Töne verarbeitet. Die Schallwellen seiner aktiven Klicks oder die reflektierten von passiven Quellen sammelte sein Gehirn in komplexen, leicht verschwommenen und dreidimensionalen Graustufenbildern. Sehende Menschen sagen oft – auf eine akustische Störung angesprochen: »Das höre ich schon lange nicht mehr.« Ähnlich erging es Fedor. Die Schallwellen, die in seinem Kopf Bilder erzeugten, überlagerten die tatsächlichen Töne nicht. Beispielsweise stand Fedor am Straßenrand, ein Auto kam angefahren, dessen Motorengeräusch der Junge selbstverständlich hörte. Ferner wurden die Schallwellen des Motorengeräuschs von Straßenbäumen reflektiert, in Fedors Bild waren die Bäume zu sehen. Durch zusätzliches Klicken wurde das Bild vervollständigt. Fedor sah die Umrisse des Autos, Bordsteinkanten, einen Radfahrer, Straßenschilder und einen Mülleimer, der von einer Eisenstange im Boden gehalten wurde, dazu die Bäume, Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite, eine Häuserflucht, Fenster, Türen, Stufen und andere Menschen.
Natürlich lag Fedors »Sehen« hinter dem tatsächlich Sehender zurück, Farben konnte er nicht wahrnehmen und sie sich nicht oder nur schwer vorstellen, kleine Objekte und Details unter zwei Zentimetern, wie beispielsweise flache Stufen oder Schwellen, zeigten sich nicht. Und doch hatte er es bereits mehrfach geschafft, größere Objekte in Entfernungen von über dreihundert Metern wahrzunehmen. Die Wahrnehmung als solche half dem Jungen, sich in fremden Umgebungen zu orientieren. Viel wichtiger war es für ihn jedoch, Dinge nicht nur wahrzunehmen, sondern sie anhand von Erfahrungen und Kenntnissen zu identifizieren.
Fedor benutzte mitunter den neuen, hochmodernen Blindenstock, doch dessen Handhabung entwickelte sich nicht mehr weiter, sie hatte die höchste Nutzungsstufe erreicht, und das langweilte ihn. Also verließ sich Fedor auf die aktive Echoortung und damit auf seine Ohren. In zweiter Linie nutzte er seinen ausgeprägten Geruchssinn. Er trat nie in einen Hundehaufen, denn die verrieten sich ihm zeitig. Er erkannte praktisch alle ihm vertrauten Personen am Körpergeruch, was mit der Echoortung unmöglich war. Ein dritter Sinn, der Tastsinn, dem Fedor lange Zeit wenig Beachtung geschenkt hatte, half ihm mehr und mehr, die eigene Vorstellungskraft von Form und Zustand der georteten Objekte zu verbessern. Er unterschied bei Gegenständen und Gesichtern bereits zwischen schön und hässlich, jung und neu oder alt und kaputt.
Allerdings – wie das bei einem Jugendlichen wahrscheinlich völlig normal ist – vernachlässigte er hin und wieder das einfache und gewöhnliche Verhalten, vergaß oft den Langstock und stolperte prompt durch Löcher und über flache Kanten, denn die sah er mit dem Klicksonar nicht. Zudem wollten die Beine und Arme nicht so reagieren, wie er es sich gewünscht hätte. Die Motorik seiner Bewegungen musste sich nach dem rasanten Wuchs erst wieder einjustieren.
Zusammengefasst war Fedor Sorokin ein pubertierender Vierzehnjähriger, der mit seiner Blindheit besser zurechtkam als mit seinem gegenwärtigen Leben.
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Der Junge stand vom Rechner auf, zog die Ohrstöpsel aus den Ohren und warf sich aufs Bett. Er lauschte dem hässlichen Aprilwetter. Regen trommelte gegen das Fenster, Sturmschauer änderten die Luftdruckverhältnisse im neuen Haus, das recht einsam und außerhalb der sächsischen Stadt Leipzig gelegen war. Der Vater hatte es bauen lassen, nachdem das alte Haus an gleicher Stelle vor einem knappen Jahr von Lauras Vater zerstört worden war. Während der Planung und der Bauphase hatte Fedor beharrlich seine Forderungen und Wünsche durchgesetzt. So war ein einstöckiges Haus mit einem großzügigen Grundriss, mit Türen ohne Schwellen und unzähligen kleinen und großen Hilfen für einen blinden Jungen entstanden. Fedors Zimmer war praktisch und ohne Kanten eingerichtet, sein Weg zu den Sanitärräumen kurz und ohne Hindernisse.
Selbstverständlich hatte Fedor in der Schule den einen oder anderen Freund, doch keiner – und schon gar kein Mädchen – kam mit seiner Behinderung so zurecht wie einst Laura. Keiner der jetzigen Freunde war mit dem blonden Mädchen vergleichbar. Laura schrieb ihm über die elektronischen Medien, rief manchmal auch an, doch ihr damals erfühltes Gesicht verblasste mehr und mehr in Fedors Erinnerungen. Zudem wurden die Kontakte seltener, die Beziehungskurve neigte sich abwärts. Lauras Mutter hatte der Tochter den Kontakt in die Bundesrepublik verboten, das wusste Fedor längst.
Im neuen Haus gab es zwei kleine Gästezimmer und ein Gästebad. Dieser Bereich wurde extrem selten bewohnt und genutzt, denn Fedors Vater war seit vierzehn Jahren mehr oder minder solo.
Für eine gewisse Zeit war er mit Katie liiert gewesen, der Kriminalassistentin von Hans Rattner, einem Hauptkommissar der Mordkommission in Leipzig und dem besten Freund von Anatolij Sorokin. Doch irgendwie war die Beziehung mit Katie nach den Ereignissen des vergangenen Sommers in die Brüche gegangen. Hin und wieder war Katie anfangs im neuen Haus zugegen gewesen, Fedor erlauschte jedoch, dass sie mit seinem Vater definitiv keinen Sex mehr hatte. Dann war die Weihnachtszeit gekommen, sie hatte sich plötzlich zu einem anderen Mann hingezogen gefühlt und kam seitdem nicht mehr vorbei. Im Januar hatte sie sich versetzen lassen und war weggezogen.
Manchmal tauchte Hans Rattner auf. Er sorgte sich sehr um Fedors Befinden, gab dem Jungen gut gemeinte Ratschläge und beschäftigte sich mit ihm.
Da gab es aber noch diese zweite Frau, deren Kosename obskurerweise ebenfalls Katie war, obwohl sie Jekaterina Ruslanowna Wolkowa hieß. Sie wohnte mit ihren zwei kleinen Nervensägen Anton und Natascha in Moskau. Fedor wusste