Nach anderthalb Jahrhunderten spanischer Herrschaft hatten die Engländer im Jahre 1655 in einem Handstreich die damalige Inselhauptstadt Spanish Town und damit die ganze Insel in ihre Gewalt gebracht. Sie organisierten in kurzer Zeit eine florierende Kolonie, die so wertvoll war, dass sie viele begehrliche Angreifer anlockte. Doch die Briten wussten sich gegen die französischen und spanischen Flotten zu wehren. Und sogar für die Bekämpfung des Piratenunwesens, wie in vielen anderen Meeren die permanente Gefahr für Inselbewohner, hatten sie ein Rezept, ein typisch britisches. Henry Morgan war der Anführer der Piraten, die in dem Städtchen Port Royal an der weiten Bucht, an der heute Kingston liegt, ihr Hauptquartier hatten. Die Britische Krone ernannte den Räuberhauptmann einfach zum Ritter und Leutnant-Gouverneur von Jamaika, also zum Oberaufseher. Das Spiel gefiel Henry Morgan. Er verbot die Piraterie und knüpfte eine Menge seiner ehemaligen Kumpane auf. Der Rest der unermesslich reichen und kraftstrotzenden Piratenherrlichkeit ging dann bei dem verhee- renden Erdbeben von 1692 zugrunde, das Port Royal auslöschte. Nach dieser Naturkatastrophe bauten die Engländer sich in der Nähe eine neue Inselhauptstadt, die sie Kingston nannten. Deren günstige Lage an einem weiten Naturhafen war ausschlaggebend für den Abschied von Spanish Town als Hauptstadt. Kingston, die neue Stadt am Fuße der Blauen Berge, eine Metropole mit einer halben Million Einwohnern, durfte sich inzwischen die größte englischsprachige Stadt in der Karibik nennen.
Jamaika war als der absolute Höhepunkt der Reise angekündigt worden. Eigentlich recht ungeschickt, den Höhepunkt am Anfang der Tour zu servieren. Mein Tischnachbar konnte der Jamaika-Durchquerung jedenfalls schon einen Superlativ verleihen:
»Die schrecklichste Autofahrt meines Lebens«, seufzte er. Auch er hatte die Fahrt in einem Taxi gemacht.
»Eine Raserei, eine Hetzjagd. Der Fahrer war ein Wilder, wie er im Buche steht. Der Kerl hat mit seinem Wagen an dem einen Tag mehr Delikte begangen, als er in zwanzig Jahren absitzen könnte. Er war nicht einmal zu halten, als er einen anderen Wagen kräftig gerammt hat. Ohne Aufenthalt weiter, rücksichtslos. Ich bin völlig bedient.«
Mein Tischnachbar auf dem Schiff war ein älterer Herr, Inhaber eines Unternehmens für Schuhimport/-export in Bremen, mit dem ich wenig gemeinsamen Gesprächsstoff hatte. Bücher zu schreiben hielt er für bloßen Zeitvertreib. Den Schuh zog ich mir nicht an. Wir beiden Ehepaare mussten aufgrund höherer Fügung immer zusammen an unserem Vierertisch sitzen. So kriegten meine Frau und ich beim späten Abendessen zu hören, wie es ihm und seiner Frau ergangen war:
»Rechts Wald und links Wald, und immer mal wieder Ausblicke über die hügelige Landschaft. Sehr schön. Aber eine Kurve nach der anderen, dass man schwindelig wurde. Dabei wollte ich mir das näher ansehen, die Hütte am Straßenrand, so schön strohgedeckt. Vorbei. Dann wieder so ein Anblick, Negerkinder drum herum, die aussahen, wie aus dem Märchenbuch geklaut. Wieder vorbei. Alles so herrlich ursprünglich, endlich der Blick durchs Schlüsselloch in die andere Welt, in eine echte Welt. Als wieder einige Hütten am Straßenrand auftauchten, haben wir dem Fahrer befohlen anzuhalten. Ein malerisches Bild war das: Offene Feuer, über denen Maiskolben geröstet wurden. Aber dann entpuppte sich die Idylle als Wirtshaus im Spessart. Der Mais-Mensch bestand darauf, seine Maiskolben zu verkaufen. Der Mann war nicht abzuschütteln. Dabei mag ich gar keinen Mais. Ich denke noch an das nasse Maisbrot nach dem Krieg. Und als ich von einem Negerknaben ein Foto machen wollte, stellte sich die dralle Negermami mit energischem Protest vor ihn und forderte Bezahlung. Die Frau hatte feste Preise: 20 Cents pro Foto. Als ich dem Kleinen 15 Cents in das Händchen gab, mehr Münzen hatte ich gerade nicht, lehnte die Mutter ab. Ich musste mir Geld leihen, um das naturverbundene einfache Leben fotografieren zu dürfen. Als wir dann wieder einstiegen, sah ich noch, wie die Frau dem Jungen das Geld mit Gewalt abringen musste. Der Kleine machte ein großes Geschrei und lief heulend in den Wald. Dabei hielt gerade ein weiterer Touristenbus an. Diese Verzweiflung der rabiaten Mutter, jetzt ohne ihren Lockvogel. Das habe ich ihr gegönnt.«
»Diese Blumenpracht«, schwärmte die Frau des Schuhmannes, »stellen Sie sich das vor: Unmengen von Weihnachtssternen. Unser Weihnachtsstern in dem Delfter Topf steht noch daheim auf dem Couchtisch. Ich hoffe, unsere Haushälterin gibt ihm regelmäßig Wasser. Aber hier waren ganze Hecken von Weihnachtssternen zu sehen. Im Vorbeifahren. Lange rote Hecken. Wie gern hätte ich mal die Nase hineingesteckt. Aber immer vorbei.«
Am frühen Nachmittag im Hafenviertel von Kingston angekommen und mit einem Aufatmen aus dem Wagen gekrochen, wurde jedem mit einem Blick klar, welchen Zweck die wilde Jagd hatte. Alle Busse und Taxis spuckten ihre Touristen vor einer riesigen Halle aus. Und diese Halle war vollgepackt mit Souvenirs. Ein Stand neben dem anderen, immer das Gleiche: Korbarbeiten, Holzgeschnitztes, Postkarten, Ketten, Hüte, Armreifen, Rumbakugeln und Trommeln. In jeder Koje saß eine dicke Mami und versuchte sich in Überredungskünsten. Weil das Schiff noch nicht im Hafen angekommen war, mussten die Durchgerüttelten fast vier Stunden lang den Kopf schütteln oder Dollars hinblättern. Kaum eine Möglichkeit, sich diesem Superangebot zu entziehen. Die Stadt Kingston lag weit weg, mit dem Taxi wäre das ein Aufwand von umgerechnet 25 Mark hin und 25 Mark zurück gewesen. Verzichtet. Aber außer dieser großen Halle, dem Crafts Market, gab es dort am Hafen nichts. Bloß noch die schäbige kleine Kneipe mit dem einsamen Goldfisch in seinem schiefhängenden Glaskasten, halb verdeckt hinter einem riesigen Ventilator in der Ecke.
Ich hätte vor Vergnügen trommeln können. Hatte ich doch eine kleine Bambustrommel an der Hand hängen. Der Tribut, den ich beim Warten auf unser Schiff gezahlt hatte. Ein langer Schwarzer war mir schon in der Halle mehrmals begegnet. Und jedes Mal hatte er mir etwas von seinen Waren verkaufen wollen. Dass ich keine der Halsketten aus Obstkernen brauchte, die er bündelweise um den Hals hängen hatte, sah er schnell ein. Aber die kleine Trommel, mit der er auf sich aufmerksam machte, schien ihm so recht für mich gemacht. Ich konnte noch so oft und wortreich gestehen, dass ich nicht trommeln könne und wolle, alles vergebens. Der Mann war auch überfordert mit meinen Hinweisen auf den modernen Wohnungsbau mit seinen dünnen Wänden und nervösen Nachbarn. Es gelang mir, den Mann immer wieder stehen zu lassen und mich in einen anderen Menschenklumpen hinein zu verdrücken. Aber dann, draußen auf dem Weg zu der Kaschemme, ging er wieder an meiner Seite. Und trommelte. Wie ein guter Kamerad, im Gleichschritt mit mir. Da habe ich ihm die Trommel abgekauft, um endlich meine Ruhe zu haben. Er strahlte und erklärte mich zu seinem Freund. Und mir schien, er hat ohne jede Erläuterung verstanden, wieso ich etwas kaufte, wofür ich keine Verwendung hatte. So selbstverständlich und stolz nahm er die Dollarscheine entgegen, offensichtlich als Anerkennung für ihn und für die rund 90 Prozent der Bevölkerung Jamaikas. Fast alle wie er Abkömmlinge der afrikanischen Negersklaven. Abkömmlinge auch der weißen Herrscher, denn die spanischen und britischen Herren haben mit ihrer Zuneigung zu den schwarzen Sklavinnen so nebenbei für eine vielfältige Blutsmischung gesorgt, ganz abgesehen von den Beimischungen, die auf das Konto eingewanderter Nordamerikaner und Chinesen und Inder gehen.
Auf dem Weg zu unserem Schiff, das endlich angekommen war und das Fallreep heruntergelassen hatte, konnte ich meine Trommel einem kleinen schwarzen Jungen schenken, der mitlief. Diese glücklichen Augen. Hoffentlich war das für ihn der Start zu einer blendenden Karriere als Jazzmusiker.
An dem Abend musste ich mich in einer der beiden Bordbibliotheken, die in getrennten Räumen