Ein wenig südlicher hielt Kolumbus sich auf der zweiten Reise, die ihn unter anderem nach Puerto Rico und nach Jamaika führte. Auf dieser Fahrt vom 25. September 1493 bis zum 11. Juni 1496 befehligte Kolumbus schon eine Flotte von 17 Schiffen mit insgesamt fast 1500 Menschen. An der Insel Puerto Rico hatte Kolumbus so wenig Interesse, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, einen Landeplatz zu suchen. Er ließ seine Flotte einen Tag lang vor der Küste anhalten, schickte zur Erkundung einen Teil seiner Männer mit Booten an Land und begnügte sich im Übrigen damit, der Insel den schönen Namen St. Johannes zu geben.
Der mitreisende Arzt Doktor Chanca beschrieb in seinem Reisebericht die neu entdeckte Insel so: »Dies ist eine prachtvolle Insel, und sie scheint fruchtbar zu sein. Die Kariben suchen sie oft heim, um die Eingeborenen zu unterwerfen. Meistens schleppen sie viel Volk fort. Die Bewohner dieser Insel besitzen weder Boote noch die geringsten Schifffahrt-Kenntnisse. Aber nach den Angaben unserer Gefangenen benutzen sie ebenso wie die Kariben Bogen. Gelingt es ihnen zufällig, bei einem auf sie gerichteten Angriff einige der Eindringlinge gefangen zu nehmen, dann fressen sie diese ebenso auf, wie die Kariben sie im entgegengesetzten Falle verzehren würden.«
Da haben wir sie schriftlich, die alte Mär von den Menschenfressern in der Karibik. Kolumbus war gerade zu der Zeit dort umhergesegelt, als die auf den Inseln schon länger als zweitausend Jahre ansässigen Arawaks sich gegen den wachsenden Zustrom der Karaiben oder Kariben wehrten, die vom südamerikanischen Festland herüberkamen. Den Namen Kariben verstand Kolumbus als Kaniben, und die waren ihm aus dem Bericht des Marco Polo als Völker des Großkhans bekannt. Kolumbus hatte damit einen weiteren »Beweis« dafür, dass er Indien erreicht hatte. Und wir bekamen damit die menschenfressenden Kariben als Kannibalen serviert.
JAMAIKA
Merkwürdig, dass wir nichts an Meeresgetier zu sehen bekamen. Ringsum nur Wasser, manchmal über siebentausend Meter tief. Wasser, Wasser, soweit die Blicke reichen. Diese dummen Überblicke, zwangsläufig so oberflächlich, weil das Wasser, so durchsichtig es ist, uns eine unvorstellbar vielgestaltige Welt vorenthält. Nichts für uns. Als Landwesen sind wir an den äußersten Rand dieser Welt gedrängt. Nur einmal waren ein paar Delphine zu sehen, die eine Weile neben uns her schwammen und uns mit Luftsprüngen zu begrüßen schienen. Und vorgestern war der Tag der Fliegenden Fische. Ganze Schwärme dieser kleinen silbrigen Segler spritzten plötzlich schräg aus dem Wasser, segelten ein paar Sekunden lang dicht über den Wellen dahin und ließen sich von dem nächsten hohen Wellenkamm verschlucken.
Dann war da noch dieser winzige Goldfisch, mutterseelenallein in einem kleinen verdreckten Aquarium, das schief auf einem Brettchen hing. In der primitiven Kneipe in Kingston auf Jamaika. Wir waren am Morgen im Nordwesten der Insel gelandet, in Montego Bay, an der sogenannten Millionärsriviera der Insel. Das Schiff fuhr ohne uns um die Westküste herum zur Hauptstadt Kingston im Südosten. Mit unseren Koffern, mit all unserer Habe. Sollten wir alles erst am Abend wiedersehen, wenn wir quer über die Insel nach Kingston gekommen wären, egal wie. Aber wir konnten unbesorgt sein. Um das Wie kümmerten sich die Einheimischen. Und wie. Noch nicht ganz runter vom Fallreep, wurde man schon angeschrien: »Taxi!«, »Taxi!«, »Taxi!«
Das Gezerre und Gezeter wollte überhaupt kein Ende nehmen. Und mich begrüßten sie mit Fidel-Rufen, weil ich einen Vollbart wie Fidel Castro trug. Amerikanische Straßenkreuzer und VW-Busse zu Dutzenden. Dabei hatten die meisten Passagiere vorgeplante Autobustouren gebucht. Es ging nur noch um die paar Abenteurer, die es wagten, als Individualisten Jamaika zu durchqueren. Für fünfzehn US-Dollar pro Person. Nach einer halben Stunde Herumstehen und Fotografieren und Überlegen waren wir nur noch zehn Dollar pro Kopf wert.
Endlich auf meinem Sitz in einem der Kleinbusse, überkam mich ein Gefühl der Beruhigung und der Geborgenheit. Unser schwarzer Fahrer steckte in einem persilweißen, ordentlich gebügelten Oberhemd: Am Innenspiegel seines Wagens baumelte ein Rosenkranz mit silbernem Kruzifix. Zudem wurde der Spiegel halb verdeckt von einem fast schon geschmackvollen Spruchband, auf dem in Englisch zu lesen war: »Gott, ich werde heute sehr geschäftig sein; es kann sein, dass ich Dich darüber vergesse, aber vergiss Du mich bitte nicht.«
Unser Fahrer schien sich dieser Absprache mit seinem Gott sicher zu sein. Wir fuhren nicht über die Insel, wir überflogen sie. Mit 50 bis 60 Meilen pro Stunde auf holprigen Straßen, die fast nur aus Kurven bestanden. Kein Auto, das sich nicht einholen und überholen ließ, das war der Ehrgeiz unseres Fahrers. Dazu ließ er seine Autofanfare eifriger ertönen, als es ein Postkutscher mit seinem Posthorn selbst bei bester Gesundheit geschafft hätte. Die Melodie seiner Hupe, der Anfang vom River-Kwai-Marsch, wird mich bis an mein Lebensende an Jamaika erinnern. An Sitze und Griffe geklammert wie festgeschweißt, stoben wir über die Insel. Der Fahrer fuhr nach der Devise: Ich habe immer Vorfahrt. Dabei entwickelte er einen nicht nur rabiaten, sondern auch intelligenten Fahrstil. Jede noch so geringe Chance wahrnehmend, über durchgezogene Linien taktvoll hinwegsehend, sein Horn mal wie einen Kriegsruf, mal als Triumphgeheul ertönen lassend. Aber wir fuhren nicht nur. Man brauchte dem Mann überhaupt keine Anweisungen zu geben. Er wusste, was wir brauchten: eine kleine Badepause, ein gutes Essen, genügend Zeit zum Einkaufen. War alles schon fest eingeplant. Er raste zielstrebig hin zum Hilton-Hotel in Ocho Rios, lud uns aus in der Hotelzufahrt und parkte seinen VW-Bus zwischen den Stingrays und Chevys auf dem Hotelparkplatz.
Gehorsam eilten wir an den Hotelstrand. Ein paar schwarze Strandaufseher saßen im Schatten eines Kiosks. Offensichtlich amüsierten sie sich über meinen schwarzen Bart. Ich ging zu ihnen und erklärte ihnen den Zweck dieses fülligen Kopfputzes: In Deutschland, sagte ich, sei es immer sehr kalt, daher brauche man einen solchen Gesichtsschutz. Das mache den Unterschied zu Jamaika, wo es immer heiß ist, weswegen die Schwarzen immer nur ein paar einzelne Barthaare haben. Die Burschen staunten mich an und bogen sich vor Lachen. Ich hatte neue Freunde gewonnen. So konnten wir, ohne besorgt nach den Strandwachen schielen zu müssen, nach Herzenslust im Hilton-Wasser schwimmen und im Hilton-Sand herumtoben, uns vom Hilton-Sprungturm in den Hilton-Swimmingpool fallen lassen. Ein Vergnügen, das eigentlich für Millionäre und Spesenritter reserviert war.
Und anschließend durften wir sogar, ohne eine HiltonMark ausgegeben zu haben, ungerupft von dannen ziehen. Wir hatten unseren Fahrer dazu überredet, uns ein anderes Restaurant zu zeigen. Nicht so amerikanisch, lieber typisch jamaikanisch.
Das hatte dem Fahrer gefallen. Dafür brach er aus seiner Programmierung aus. Das heißt, er hatte wohl auch an anderen Stellen seine Leute, die ihm Provisionen zahlten. Jedenfalls hielt er noch zweimal an und lud uns aus. Beim ersten Mal gab es einen schönen Wasserfall, den wir betrachten durften oder sollten. Der 133 Meter hohe Dunns River Fall, den wir sogar ein Stückchen hinaufklettern konnten. Beim zweiten Halt war es eine alte, über und über efeubewachsene Kirche, die wir bestaunen durften, dazu Christoph Kolumbus, der als Denkmal vor der Kirche Wache hielt.
Kolumbus war auf seiner zweiten Reise, im Jahre 1594, auf Jamaika gelandet, wenn auch nicht da, wo jetzt sein Denkmal stand. Die Stelle, an der er zuerst jamaikanischen Boden betreten hatte, die Discovery Bay, hatten wir schon am frühen Vormittag kurz besichtigt. Sehr kurz, denn es war dort nichts zu sehen, als eine kleine Bucht. Die hatte der Entdecker Santa Gloria genannt. An Einfällen für schöne Namen hatte er ja keinen Mangel. Damit spätere Besucher etwas zu knipsen haben, hat man irgendwann ein paar Requisiten aufgestellt: Maschinen, deren Funktion uns rätselhaft blieb, Gedenksteine für Familien, die uns nichts bedeuteten, ein Kanönchen sowie ein Wasserrad, beide so putzig wie funktionslos. An die rund 60 000 Arawaks, die einst auf dieser Insel gelebt hatten, erinnerte nichts, obwohl es in diese Bucht gepasst hätte. Unter dem ersten spanischen Gouverneur, Juan de Esquivel, der im Jahre 1509 die Kolonisation der Insel begonnen hatte, wurden die Arawaks als von der gütigen Vorsehung geschenkte Sklaven betrachtet. Nach etwa fünfzig Jahren harter Arbeit für die spanischen Herren waren sie so gut wie ausgestorben.
Erst beim dritten Stopp nach dem Hilton-Strandhotel empfing uns ein gemütliches kleines Restaurant. Da wurde uns, draußen unter Palmstrohdächern, Landestypisches geboten: Krabben und Hummer. Und dazu Rumpunsch als eiskaltes Erfrischungsgetränk. Was für ein Unterschied zu dem heißen Tee mit Rum, der uns die heimischen Winter überleben