Nagel griff unwillkürlich nach dem Arm des Gelehrten. »Sie haben den Stern ultraphotographisch entdeckt?«
»Ja, vorgestern nacht.« Werndt machte den Eindruck als wäre die Entdeckung ganz unspektakulär.
Aber den Zuhörern hatte es die Sprache verschlagen. Ihre Gedanken standen ganz unter der Wucht des Gehörten.
»Und was hat der Stern für eine Bedeutung?« unterbrach endlich Mabel das Schweigen.
»Ich denke, dass er uns hilft große Rätsel der Natur zu lösen, aber auch neue Fragen aufwerfen wird.«
Nagel blickte erregt durch das Rohr. »Glauben Sie, das unser Meteor mit jenem Stern in Zusammenhang steht?«
»Gewiss. Ich vermute, dass unser Meteor ein Bote von jenem Stern ist, dass er Millionen von Jahren durch das All flog, um endlich von unserer Sonne eingefangen zu werden, und auf der Erde zum Schrecken ihrer Bewohner zu zerschellen.«
Beinahe ehrfürchtig sah Nagel zu seinem Lehrer hinüber. »Sie, Werndt, hat der Himmel geschickt!«
»Nicht mich, sondern den Meteor. Auch ich glaube nicht an Zufälle sondern an eine Bestimmung. Warum musste dieser Meteor gerade die Erde erreichen, den einzigen bewohnten Planeten in unserer Milchstraße? Warum musste er gerade jetzt auf die Erde fallen, wo die technischen Möglichkeiten zumindest so weit fortgeschritten sind, dass wir diesen Boliden untersuchen und seine Zusammensetzung analysieren können. Warum löschte dieser Bolide nicht die gesamte Menschheit aus bei seinem Sturz auf die Erde. Warum stürzte nicht der ganze Meteor in den Ozean, sondern Bruchstücke für uns zugänglich auf festes Land. Und endlich, warum steht uns das Muttergestirn jenes Meteors so relativ nahe und nähert sich uns mit rasender Geschwindigkeit noch weiter, wie meine Aufnahmen am Spektrographen unzweifelhaft ergaben? Man mag heute noch den Kopf darüber schütteln, aber ich sage, dass hinter all diesen Fragen ein Zusammenhang besteht, vielleicht sogar göttliche Fügung. Dieser Meteor wird uns helfen, die Entstehung des Weltalls und des Lebens auf der Erde zu verstehen.«
»Glauben Sie, dass dieser Stern der einzige seiner Art ist?« überlegte Nagel.
»Vielleicht ist er der einzige, vielleicht werden noch ganze Sternensysteme entdeckt. Jedenfalls handelt es sich um eine Materie von ganz besonderer Eigenart. Wir wissen nicht, ob nicht gerade diese Materie verantwortlich ist für den Ursprung des Lebens und ob unbekannte Lebewesen auf diesem Stern existieren. Ob es uns Menschen gelingen wird, aus jenem Staubkorn, das dieser Stern uns sandte, sein Rätsel zu lösen.«
Von Begeisterung getrieben rief Nagel aus: »Ja! Ihnen wird es gelingen. Sie werden diesem Geheimnis auf den Grund gehen!«
Alle drei schauten hinauf in das silberne Mondlicht und in der Kuppel des Sternwartengebäudes hallten Nagels Worte noch lange nach, als wären sie eine Prophezeiung.
4
In einer unglaublich steilen Spirale, - ein Zuschauer hätte bestimmt einen Absturz befürchtet -, schoss das kleine, rote Flugzeug zur Erde und landete auf einer Felsenterrasse mitten im zerklüfteten Bergland.
Wie ein bunter Schmetterling wiegte es sich noch sekundenlang hin und her. Dann öffnete sich schnell der Türschlag und ein einziger Insasse stieg ins Freie.
Es war eine Frau in enganliegendem Ledergekostüm. Sie knöpfte die Jacke leicht auf und nahm den Sturzhelm vom Kopf. Ihre großen, glänzenden Augen prüften mit suchendem Blick ihre Umgebung.
Dann ging sie mit ruhiger Sicherheit auf eine Pflanzenwand zu, deren überhängendes Schlinggewächs jedes Weiterkommen unmöglich zu machen schien. Sie schob die grüne Wand zurück wie einen Vorhang. Hinter ihm wurde es hell.
Ein schmaler Pfad aus natürlichen Felsstufen führte zu einem zackigen Vorsprung hinauf. Ihm gegenüber lag, wie aus dem Fels gewachsen, ein steinernes Tor, das im Widerschein der Sonne gIitzerte und tiefe Schatten nach unten warf.
Ein bedrohlich schmaler Felsgrat führte über eine tiefe Schlucht zu dem Tor. Ohne zu zögern überquerte die Fliegerin die Schlucht auf dem Grat. Hinter dem Tor führte eine feuchtglitzernde Steinspalte hinein in den Berg.
Tief ausgewaschene Felssäale zeigten Spuren eines gewaltigen Sturzbaches, der hier einst seinen Weg genommen hatte, bis er andere Ausgänge fand oder gewiesen erhielt. Kein Mensch war zu sehen. Nur riesige Fledermäuse hingen regungslos an den Wänden, und kleine, bunte Eidechsen und Schlangen huschten in den vertrockneten Rinnen des Bodens.
Das Brüllen des unter der Bergsohle in die Tiefe brausenden Wassers wurde schwächer und schwächer. Seltsame klagende, zischende Laute lösten sich von den Wänden, fern, unwirklich, wesenlos, und verstärkten den unheimlichen Eindruck der toten Umgebung.
Plötzlich zuckte die Frau zusammen. Dicht vor ihr saß eine schwarze Gestalt, ein hagerer Mensch, fast nackt, den Kopf hintenübergebeugt, die Hände reglos zum Himmel erhoben. Er saß vollkommen unbeweglich, wie leblos, zum Felsen erstarrt. Nur die weitaufgerissenen Augen liefen in ihren Höhlen hin und her, glühweiß, fieberig, wie gepeitschte Bestien.
Quer über den Weg lag ein betender Mann. Er hatte seinen Körper Lang auf einem schmalen Brett ausgestreckt, das mit langen Nägeln gespickt war, dessen rostige Spitzen sich gegen den Leib des Büßenden bohrten. Doch kein Laut der Klage war von ihm zu hören.
Hinter ihm hing ein Mensch von der Decke herab. Die Füße gefesselt an einem Pflock, den Kopf nach unten. Er gab kein Zeichen des Lebens von sich.
Immer neue Gestalten tauchten auf: Junge Männer, krumm zusammengeschnürt, mit wild atmenden Flanken. Weißhaarige Greise, in stummes Grübeln versenkt, den stechenden Blick auf die Felswand gerichtet. Ab und zu ein scheußlicher Kopf, unerwartet, aus einer Spalte heraus, wie ein höllischer Spuk.
Ohne sich umzusehen, schritt die Frau an den büßenden Yogis vorbei. Das Strombett teilte sich hier und bildete einen mächtigen Saal, dessen hölzernes Tor das erste Zeichen von Menschenwerk war. Die Frau schlug mit einem hölzernen Klöppel dreimal an die Türe. Die Schläge warfen ein laut hallendes Echo nach innen, dass die Felswände brüllten.
Dann wich das massive Tor wie durch Windhauch zurück. Helles Sonnenlicht flutete weit in den Gang. Das geöffnete Tor gab den Blick frei auf einen tempelartigen Hof, dessen Boden ein kunstvolles Mosaik bildete. Die Mosaiksteine formten einen Stern, aus dessen Mitte ein goldenes Becken aufwuchs. Breiter Urwald drängte sich dicht an die Ränder, und kreischende Affen schaukelten sich in seinem Geäst und knurrten die fremde Besucherin an.
Die junge Frau blieb regungslos stehen, den Blick fest auf den vordersten Felsblock geheftet. Wie ein versteinerter Baumstumpf ragte er über weit und schmal über den Abgrund hinaus. Wie eine Brücke ins Jenseits, deren anderes Ende jäh abgebrochen war. Unter ihm starrte die grausige Tiefe, von wogenden Schatten und der Gischt stürzender Wassermassen gefüllt.
Und auf dieser furchtbaren, schwindelnden Spitze stand ruhig ein Mensch. Gegen den Himmel hob sich sein Körper überlebensgroß ab. Ein langes, weißes Gewand fiel ihm bis auf die Füße und wehte im Wind, der sich aus der Schlucht hob. Er schien in seinem Gebet ganz in den Anblick der Sonne vertieft zu sein.
Nach einigen Minuten, die die junge Frau ruhig abwartete, wandte er sich auf der Felsspitze um, schritt sekundenlang auf der schmalen Brücke wie schwebend dahin und ging mit ruhigem Schritt auf das Goldbecken zu.
Sein schlankes Gesicht war von einem unwirklichen Gelb, hell und gleichmäßig, wie die Schale einer Zitrone. Langes, schneeweißes Haar fiel bis auf die Schultern herab und gab seiner ganzen Erscheinung etwas Heiliges, Ehrfurchterweckendes.
Ohne Überraschung schaute der Greis auf die wartende Frau. Wie zum Segen streckte er einen Augenblick die Hand über sie. Sie neigte den Kopf und wartete stumm.
»Ich sah den Blutgeier meiner Tochter aus den Wolken stürzen«, sagte er mit einer volltönenden Stimme, die seltsam jugendlich klang zu seinem schlohweißen Haar. »Womit kann ich der Herrin dienen ?«
Sie hob lebhaft den schönen Kopf.