Die Geschichte
April
„Mama, ich treffe mich heute Abend mit Till“, rief Katja durch die geschlossene Badezimmertür ihrer Mutter zu, die gerade ein ausgiebiges Wannenbad nahm. „Äwer kumm nicht te späh, morne musste wir arbeien“, Uschi sprach noch das urtümliche Wipperfürther Platt. Katja lächelte. Es hatte wieder mal geklappt. Die gertenschlanke Achtzehnjährige verdrehte die Augen, schlug die Tür hinter sich zu und rannte vom Hochhaus hinunter in die Stadt, wo am Surgères Platz ein schwarzes BMW-Coupé auf sie wartete. Sie wusste, ihre Mutter würde am Abend bestimmt wieder beim Fernsehen einschlafen und erst am anderen Morgen auf der Couch wach werden. Ein paar Gläser Wein garantierten ihr eine friedliche Nachtruhe. „Seit gestern bin ich volljährig“, dachte sie stolz, „und ich will endlich raus aus diesem Kaff.“ Uschi rekelte sich in der Badewanne und goss noch etwas Badeöl nach. Es gab doch nichts Besseres, um sich zu entspannen! Gleich würde sie es sich auf der Couch bei einem Glas Wein und ihrer Lieblingsserie gemütlich machen.
Im Brauhaus stand Till an der Theke und schüttete sich verbissen ein Kölsch nach dem anderen hinter die Binde. Er hatte Katja in das Auto einsteigen sehen und ihm war alles klar.
„Wohin fahren wir?“, fragte das Mädchen. Unterwegs hatte sie den Pferdeschwanz gelöst, so dass ihre dunklen Locken bis über die Schulter fielen. Katja hatte sich mit ihrer engen Jeans aufgebrezelt und ihr bauchfreies Top angezogen, bei dem ihr Nabelpiercing so schön zur Geltung kam. „Oh, ich werde dich überraschen. Heute zeige ich dir was Tolles“, versprach Paul. Aus dem Handschuhfach holte er eine kleine Schachtel. Neugierig riss sie das Papier ab und öffnete sie. „Ohrringe“, strahlte sie, „die sind aber schön!“ Ungeduldig entfernte sie ihre kleinen Creolen und befestigte die neuen versilberten Stecker, die wie Herzchen geformt waren. Rasch küsste sie ihn auf die Wange. „Zum Geburtstag. Echt Platin“, versicherte Paul. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Er wusste, er hatte wieder einmal gewonnen. Paul war sechsunddreißig und kannte das Leben. Volles, dunkles Haar, schlanke Figur, Dreitagebart und perfekt in Schale, darauf fuhren sie alle ab. Er brauchte nur mit dem kleinen Finger zu zucken. Und nicht nur bei Mädchen funktionierte das. Er fuhr gern zweigleisig durchs Leben, hatte sich nie endgültig für eine Richtung entscheiden können. Was soll’s denn, sagte er sich, man lebt eben nur einmal. Katja kuschelte sich auf ihrem Sitz zusammen. So mussten sich die Reichen und Schönen fühlen, so sicher, so aufgehoben. Sie war das Leben bei ihrer Mutter, die nicht über den Tellerrand hinweg schauen konnte, so unendlich leid, dazu noch die schäbige Wohnung, der ewige Geldmangel. Ihr Aushilfsjob in einer Bäckerei war ihr von Anfang an verhasst gewesen. Aber etwas Besseres hatte sie mit ihrem Schulabschluss so rasch nicht gefunden. Sie wollte ein anderes, ein richtiges Leben, raus aus dem Mief. Paul holte aus dem Handschuhfach einen Piccolo heraus und öffnete es. „Hier, zur Einstimmung“, bot er an. „Oh. Sekt. Klasse“, freute sie sich und nahm einen Schluck.
„Ich zeige dir meine neue Wohnung. Habe mir ein Loft gekauft. In Wuppertal, große Klasse“, strich er seine neue Errungenschaft heraus, ließ den Motor aufheulen und brauste los.
Mai
Carsten trat aus dem Bad und schloss die Tür hinter sich. Im Wohnzimmer stand Max am Fenster und starrte hinunter auf die Klosterstraße. Er drehte sich nicht um, als Carsten hinter ihn trat. „Willst du es dir nicht noch mal überlegen?“, hörte er seine brüchige Stimme. Als er seine Hand auf seiner Schulter spürte, wich er ihm aus und tat ein paar Schritte seitwärts in den Raum hinein. „Nein, es ist endgültig. Und überhaupt …“, er verschluckte den Satz, den er sagen wollte, stattdessen kam ein lahmes „gegen seine Gefühle kann man nichts machen“, heraus. Ein paar Takte aus „Rise Like A Phoenix“ ertönten. Ehe das Motiv ganz verklungen war, hatte Max sein Handy schon am Ohr. „Ja, gleich“, hörte Carsten ihn sagen, „ja, ich habe es ihm gesagt. Ja, heute Abend. Ich freue mich auch, ja, ich dich …“. Die Schlafzimmertür schlug zu. Carsten starrte Max hinterher. Während der letzten Tage mit den endlosen Streitereien und Diskussionen hatte er es geschafft, ruhig zu bleiben. Nun stieg mit der Gewissheit des Verlustes pure Verzweiflung in ihm auf. Max trat in die Tür, hinter ihm im Flur standen zwei gepackte Reisetaschen und ein Koffer. Lässig zog er ein Bündel Scheine aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. „Das ist das Geld, das du mir für meinen Wagen geliehen hast. Abgezählt, brauchst nicht nachzählen.“ Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Carsten starrte ihm nach, überrascht und enttäuscht von dieser letzten Geste. Drei Jahre waren sie Lebensgefährten gewesen, sein Freund und er. Das sollte jetzt alles vorbei sein? Mit beiden Händen fuhr er sich durch sein schon etwas schütteres, graumeliertes Haar. Es tat weh, verdammt weh! Seine Gefühle waren so verletzt. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er einmal wegen eines Kerls so leiden würde. Es ist doch ewig dasselbe mit der Liebe. Man glaubt, sie für immer gefunden zu haben, und dann stellt sich doch heraus, dass alles gelogen war. Was sollte er tun?
Noch immer Mai
Max, knapp bekleidet mit Tanktop und Tanga, rekelte sich auf der breiten Couch. Es gefiel ihm außerordentlich gut in Pauls Wohnung. Allein in dem riesigen Wohnraum hätte eine Großfamilie leben können. Nebenan gab es noch Schlafräume, Bäder, Hauswirtschaftsräume und eine Wendeltreppe, die hinauf zu einer Dachterrasse führte. Gern wäre er hier eingezogen, aber Paul hatte das abgelehnt, als er ihm den Vorschlag gemacht hatte. In der Nähe hatte er ihm ein Appartement gemietet und besaß dafür einen Zweitschlüssel, so dass er zu jeder Zeit zu ihm kommen konnte, Max dagegen hatte er keinen Schlüssel zu seinem Loft überlassen. Er war der Dominierende und bestimmte, wann und wo sie sich trafen. Im Gegenzug hatte er ihm erlaubt, ein Semester seines Studiums auszusetzen. Max war im vierten Semester, hatte aber wenig Lust am Jurastudium, würde gern etwas anderes beginnen. „Hunger?“, fragte Paul und beugte sich über seinen Lover. „Mhm, ja ein bisschen“, Max schmollte, „du hast so wenig Zeit für mich.“ Paul schaute ihn an: „Einer muss ja das Geld verdienen, oder? Wir fahren jetzt in die Stadt. Ich habe da ein geschäftliches Treffen. Du fährst mit und kannst meine Geschäftsfreunde kennenlernen. Vielleicht interessiert dich ja, wo das Geld für unser üppiges Leben herkommt. Zieh dich schick an, ich will mit dir angeben.“ Als ob ihm gerade erst dieser Gedanke gekommen wäre, bemerkte er: „Und wenn du willst, habe ich einen guten Job für dich!“
Juni
Inzwischen konnte Carsten wieder etwas klarer denken. Er hatte sich intensiv mit seiner Situation auseinandergesetzt. Dabei hatte ihm – so komisch es auch schien – seine Berufserfahrung geholfen. Sein Job als Sozialarbeiter brachte ihn mit vielen Menschen zusammen. Manchem hatte er auch in vertrackten Lebenssituationen geholfen, nun versuchte er, sich selbst zu therapieren. Nach dem Rasieren betrachtete er sich kritisch im Spiegel. Sein Gesicht, nun, das war nicht mehr faltenlos, aber markant mit einem ausgeprägten Kinn und wachen Augen, die noch nichts von ihrem strahlenden Blau eingebüßt hatten. Für einen Mann Anfang sechzig noch ganz ordentlich, oder? Nachdenklich betrachtete er das breite Bett. Es schmerzte noch immer. Wie gern hätte er gewusst, mit wem Max jetzt zusammen war. Er hatte versucht, ihn anzurufen, aber ganz offensichtlich hatte Max eine neue Handynummer. Auch seine neue Adresse konnte er nicht ausfindig machen, laut Einwohnermeldeamt hatte Max sich nicht umgemeldet. Den Kerl, der ihn jetzt hatte, würde er gern kennenlernen. Was hatte er, was ihm abging? Aber allein wollte er nicht bleiben, auf gar keinen Fall. Carsten wählte einen Sportdress, weil er ins Fitnessstudio wollte, verließ das Haus und betrat die Klosterstraße. Er liebte die enge, abschüssige Straße mit ihrem fast anachronistischen Gepräge.
Nach wenigen Schritten befand er sich am Wipperfürther Marktplatz mit dem imposanten Rathaus. Schon immer hatte er sich für die Stadtgeschichte von Wipperfürth interessiert, deren Ursprünge nachweislich bis ins 12. Jahrhundert und ohne Zweifel darüber hinaus noch weiter zurückreichten. Freitags war normalerweise Wochenmarkt, und immer, wenn es seine Arbeit erlaubte, verbrachte er seine Mittagspause am Fischstand. Er mochte den Marktplatz, besonders aber im Sommer, wenn man draußen verweilen konnte, sich mit Freunden in den umliegenden Gaststätten zum Essen oder zum Bier verabredete. Draußen zu sitzen, bedeutete für ihn ein Gefühl von Freiheit.
Bei