Der Hiatus zwischen Einzelnem und Allgemeinem, Endlichem und Unendlichem, war für Hegel ein dialektisch notwendiger, die Voraussetzung schlechthin, um absolute Identität erst herstellen zu können.
»Was zwischen der Vernunft als selbstbewußtem Geiste und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt, ist die Fessel irgend eines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist. Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit […].«4
Zum Preis einer Aufspaltung der Vernunft schafft Hegel so zwei Reiche, ein ideales und ein reales, deren praktische Zusammenführung im offenen Konflikt zwischen Idealismus und Materialismus sich entlädt.
Noch einmal: Jenes der griechischen Philosophie entstammende, welches Hegel mit den Tübinger Gefährten Schelling und Hölderlin bereits in Studienjahren zum Grundmotiv seines Systems erhoben hatte, sollte in späterer Zeit, beginnend mit den Linkshegelianern, erst zum Problem werden, da versucht wurde, nach diesem Prinzip eine materielle, das heißt gesellschaftliche und ökonomische Synthese real werden zu lassen. Die Totalität, welche bei Hegel ursprünglich als erkenntnistheoretisches Absolutum gedacht war (›die Wahrheit ist immer das Ganze‹), um das Sein durch Bewusstsein mit dem Subjekt glücklich zu vermitteln, wurde im Sowjet-Marxismus zu einer Totalität, welche allein übers Materielle zu herrschen trachtete – und dies unmittelbar, weil ohne Begriffe. Adorno schreibt:
»Philosophie ließe, wenn irgend, sich definieren als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann: dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert. Hegel versucht das. Weil es nie unmittelbar sich sagen läßt, weil jedes Unmittelbare falsch – und darum im Ausdruck notwendig unklar – ist, sagt er es unermüdlich vermittelt. Nicht zuletzt darum appelliert er an die sei’s noch so problematische Totalität.«5
Im Gegensatz zu Kant ist für Hegel die Totalität nicht Gegenstand der Vernunft, sondern die Bewegung des sich selbst erfassenden Geistes. »Das Ganze ist die sich bewegende Durchdringung der Individualität und des Allgemeinen«6. Als Prozessierendes will er es außerdem verstanden wissen. Alles Prophetische und Futurische findet in diesem Zusammenhang jedoch seine dezidierte Zurückweisung. Erkenntnis als Selbstbewegung bleibt an die Verzeitlichung wie Verräumlichung (Natur + Geschichte) des Geistes gebunden. Die begriffliche Identifikation als begriffene Identität führt Hegel zum Sein, nicht zum Sollen. Seine Methode ist die der objektiven Spekulation, nicht der subjektiven Konstruktion. Die Herstellung der Wirklichkeit bleibt eine Angelegenheit der Vernunft. Das sich selbst begreifende Erkennen erliegt seiner onto-theologischen Selbstgenügsamkeit. Bedürfnisse nach Änderung werden ignoriert, »Umschlagsmomente« (Bloch) der Materie (Quantität Qualität) bleiben unerforscht. Der utopische Gehalt fehlt. Der Vollzug der dialektisch-fortschreitenden Bewegung ist dem absoluten Geist selbst überantwortet. Alles andere ginge Hegel zu weit, würde die von seiner Philosophie gesetzten Beschränkungen aufheben. Beliebigkeit gar unterstellt er solcherlei Versuchen. Dies schlägt sich in der These nieder, die Philosophie sei allein »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«.
»Es ist ebenso thöricht zu wähnen, irgend eine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. Geht seine Theorie in der That drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie seyn soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen, – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt.«7
Die für Hegels Philosophie grundlegende Differenzierung zwischen Vernunft als Selbstbewusstsein und Vernunft als vorhandener Wirklichkeit, in welcher er die Gefahr einer Unterscheidung von Sein und Sollen erblickt, wurde vom Sowjet-Marxismus nicht ausreichend berücksichtigt. Nach ›beliebigem Meinen‹ wurde die Methode verkehrt: Das Sein hatte dem Sollen identisch zu werden, ihm sich zu unterwerfen. Die Prävalenz galt von da an der Konstruktion und Produktion, nicht mehr der Analyse und der am Individuum orientierten Gesellschaft. Die Materie fand sich einsam bevorzugt und von der sie vermittelnden Idee getrennt. Das tiefere Erkennen Hegel’scher Ontologie wurde dem Postulat sachlicher Logik geopfert. Das geschichtlich Wirkliche, als einmal geäußerte Innerlichkeit, ging dem Individuum verloren. Der unkritische Glaube an ein richtiges Ganzes kulminierte am Ende in objektiver Unwahrheit.
Nach diesem Muster wurde mit der Frage des Moralischen verfahren. Hegel selbst blieb auch in ihr sich ganz treu. Er schied Moral von Sittlichkeit. Erstere nimmt ihm Bezug auf die Triebe und Neigungen des Individuums. Sie betrifft jene ›mannigfaltigen Fälle‹, jene unvermeidlichen Konflikte, welche im Miteinander des je Für-sich-Seins entstehen. Es ist das Partikulare, Nicht-Allgemeine, der Bereich privater Handlungen und ihrer engen, – im Hegel’schen Sinne – abstrakten Deutungsbestände. Das »moralische Bewußtsein« gilt als das »einfache Wissen und Wollen der reinen Pflicht im Handeln«8. Ihm wünscht er sich – entgegen den Zwängen des kategorischen Imperativs – größtmöglichen Freiraum. Den Zustand eines An-sich-Seins würde es ohnehin nicht erreichen. Konsequent negiert er die Wirklichkeit von Moral:
»Was ihm, das als Selbstbewußtsein ein anderes denn der Gegenstand ist, hiemit übrig bleibt, ist die Nichtharmonie des Pflichtbewußtseins und der Wirklichkeit, und zwar seiner eigenen. Der Satz lautet hiemit itzt so; es gibt kein moralisch vollendetes wirkliches Selbstbewußtsein; – und da das Moralische überhaupt nur ist, insofern es vollendet ist, denn die Pflicht ist das reine unvermischte Ansich, und die Moralität besteht nur in der Angemessenheit zu diesem Reinen, – so heißt der zweite Satz überhaupt so, daß es kein moralisch Wirkliches gibt.«9
Moralische Vollkommenheit existiert in Hegels Idealismus allein jenseits der Realität. Praktische Antinomien werden noetisch aufgehoben und in die Totalität transferiert. ›Absoluter Zweck‹ ist auch hier das seiner Teile bewusste Ganze.
Was dem moralischen Individuum im dargelegten Dilemma zu tun bleibt, ist, sich nicht in der ›Unwirklichkeit‹ der gelebten Diesseitsstrukturen (das Hier, das Itzt, das Dieses und das Meinen) sinnlicher Gewissheit zu verlieren, sondern Bewusstsein von der allgemeinen Freiheit, verstanden als volonté générale, zu erlangen. Die dankbare Pflicht gegenüber der so apperzipierten und institutionalisierten Freiheit als Ergebnis einer Bewegung des absoluten Geistes differenziert Hegel als Sittlichkeit. In der Moral findet das Subjekt sich als natürliches wieder, in der Sittlichkeit dagegen als noumenales, und deshalb freies. Indem es seine moralische Haltung durch Vernunft totalisiert, weiß es sich als freies Wesen zu denken. Sittlichkeit ist somit jene höhere Ordnung der Vernunft zu nennen, welche das handelnde Individuum mit dem geschichtlichen Ganzen vermittelt. Das Subjekt findet seine Freiheit in der Wahrheit einer sittlichen Objektivität, welcher es nicht blind sich übergeben sieht. Seine Rolle als Staatsbürger, das heißt als am institutionellen Ganzen Partizipierender, gewährt und garantiert ihm – bei aller Pflicht diesem gegenüber – die Freiheit, innerhalb des sittlichen wie gesetzlichen Rahmens, seinen privaten Neigungen zu entsprechen und seine natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Hegel schreibt:
»Das Recht der Individuen für ihre subjektive