Leise flüsterte der Schattenalp die Worte vor sich hin, die auf dem Brief standen. »Mein Freund Anzel. Ich habe ihn versteckt und man kann ihn nicht so leicht finden. Er ist in unserem geheiligten Bergwerk. Er wird bewacht und sie ruhen nie – die Wachen, die ich rief. Wir werden wiederkommen und nur wir können ihn nehmen. Nur mit ihm kann man die Truhe öffnen. Wir werden die Kreaturen beherrschen und ihre Kraft wird unsere Feinde zerschmettern. Ich versichere Dir, mein Freund, wir werden dann über unsere Feinde herrschen. Dein Freund Saltar.«
Obwohl das Wort ‚Schlüssel‘ in diesem Brief nicht stand, konnte sich Vagho denken, dass nur so etwas gemeint sein konnte. Ihm war auch sofort klar, dass er in diesem Bergwerk den Schlüssel finden musste, wenn er die Gorgoden haben wollte.
Der Schattenalp sah sich ein wenig um, doch es gab nichts Wichtiges zu entdecken. Er wollte das Zimmer schon wieder verlassen, da fiel sein Blick auf ein Buch. Es lag unter dem Tisch und war völlig verstaubt. Vorsichtig hob Vagho das Buch vom Boden auf und legte es auf den Tisch. Dann schlug er es auf und las die erste Seite durch. Er hatte das Tagebuch des Kaufmanns Anzel gefunden. Die meisten Eintragungen, die darin standen, waren für den Schattenalp nicht weiter wichtig. In seinem Tagebuch beschrieb Anzel, wie er seine Geschäfte erledigte und seine Kunden belieferte. Einige von ihnen musste dieser Anzel ordentlich über den Tisch gezogen haben, denn er verlieh auch Geld zu erstaunlich hohen Zinsen. Die letzten Seiten waren jedoch sehr interessant. Anzel beschrieb, wie er sich mit dem Magier Saltar verbündete. Sie hatten die Absicht gehabt, die Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen und das alte Königtum wieder aufzubauen.
Vagho las sich die letzte Seite leise vor. »Saltar hat also den Schlüssel in unserem heiligen Bergwerk versteckt. Die Sklaven, die ich gekauft habe, sind alle an diesem Ort umgekommen. Wie hat dieser Magier das nur geschafft? Jetzt tanzen ihre Seelen als Geister durch unser Heiligtum und bewachen den größten Schatz, den wir je besaßen. Nur dieser Magier und ich, wir beide wissen, wie man sich den Schlüssel holen kann. Es war nur ein Zufall, dass wir die wahre Bedeutung der Gorgoden erkannten. Jedoch wird es kein Zufall sein, wenn wir sie einsetzen. Saltar weiß, wie man sie beschwört, diese drei wunderbaren Bestien. Ich hoffe nur, das mein neuer Trick mit der Tinte …«
Vagho sah sich das letzte Wort erstaunt an und rieb sich mit der linken Hand das Kinn. Mit der rechten Hand hielt er immer noch seinen Zauberstab und beleuchtete mit ihm die Seiten des Buches. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf und er versuchte, sie zu ordnen. Irgendetwas oder irgendjemand hatte den Kaufmann am Weiterschreiben gehindert. Auf dem unteren Teil der letzten Seite war ein Fleck. Die vielen Jahre hatten ihn dunkel werden lassen, doch der Schattenalp konnte sich denken, dass es Blut war. Jemand musste Anzel mit Gewalt gehindert haben. Doch was für einen Trick hatte er mit der Tinte angestellt?
Vagho sah sich das Buch genauer an und prüfte mit seinem Zauberstab die leeren Seiten des Tagebuchs. Auf der letzten Seite zeichnete sich tatsächlich im Schein des Zauberstabs eine Karte des Bergwerks ab. Am Rand dieser Karte standen einige Worte. Der Schattenalp flüsterte sie sich mit einem hässlichen Grinsen zu. »Die Sklaven erbauten den Altar im Bergwerk. Verneige dich vor dem Schöpfer und du findest den Schlüssel.«
Ein Geräusch ließ Vagho in die Höhe fahren. Hastig riss er die letzte Seite aus dem Buch und das Licht seines Zauberstabs verschwand. Ihm war sofort klar, dass er nicht mehr allein war. Ein leises Rauschen zog an der Tür des Arbeitszimmers vorbei und der Schattenalp konnte deutlich den Geruch einer Janus-Elfe wahrnehmen. Langsam entfernte sie sich wieder und Vagho atmete erleichtert auf. Er wusste nicht, ob er einen Kampf gegen eine einzige dieser Kreaturen überhaupt gewinnen konnte und er wollte es auch nicht herausfinden. Doch er würde sich mit allen Kräften wehren, wenn er angegriffen würde.
Die Ruhe kehrte zurück und Vagho öffnete leise die Tür. Auf dem Flur war es so finster, dass er kaum etwas erkennen konnte. Der Geruch der Janus-Elfe lag immer noch in der Luft und der Schattenalp tastete sich zur Treppe hin. Als er auf dem Dachboden ankam, holte er seine Flugschale heraus und sah zu dem Loch im Dach, durch das er in das Haus gekommen war. Ihm fiel der Fluch ein, der die Mauern von Saphira umgab und ihn hindern würde, die Stadt mit der Flugschale zu verlassen. Er musste wieder durch das Tor kommen, oder einen anderen Weg finden. Doch vorher musste er seine Aufgabe erledigen.
Der Tag neigte sich dem Ende entgegen und die langen Schatten der Berge fielen auf die ersten Häuser von Saphira. Vorsichtig flog Vagho durch das Loch im Dach. Er landete hinter dem Haus, zwischen einem Haufen alter Fässer. Die Luft war auch hier mit dem Geruch der Janus-Elfen erfüllt. Doch es war keine von ihnen zu sehen oder zu hören. Leise schlich der Schattenalp von den Fässern weg. Er musste einen Weg in das Bergwerk finden.
Jede Deckung nutzend, schlich Vagho vorsichtig zur Burg. Überall lagen alte Möbel herum, die jemand vor langer Zeit auf die Straße geworfen hatte. Ab und zu bot ein Fass oder eine Kiste dem Schattenalp Schutz vor Entdeckung, denn die Janus-Elfen schwebten immer wieder an ihm vorbei. Wie lange Schleier zogen sie dabei ihre Kleider über den Erdboden. Zu seinem Glück entdeckte ihn keine dieser Kreaturen.
Vagho kam unbehelligt zu den Häusern, die dem Felsen am nächsten waren, auf dem die Burg stand. Am Fuße dieses Felsens hatten die Zwerge einst ein tiefes Loch hineingetrieben. Wenn die Karte aus dem Tagebuch des Kaufmanns Anzel stimmte, so musste dieses Loch der Eingang zum Bergwerk sein. In der Burg, die von den Wüstenzwergen auf dem Felsen gebaut worden war, musste die Truhe stehen. In ihr waren die Gorgoden, die Dämonicon so dringend brauchte.
Bei all seinen Gedanken vergaß der Schattenalp nicht, den Eingang zu beobachten. Ihm fiel auf, dass die Janus-Elfen sich plötzlich zurückzogen. Was hatte das zu bedeuten? Warum wollten diese Wesen plötzlich das Bergwerk nicht mehr bewachen? Vagho sah zwischen zwei Kisten immer wieder zu dem Eingang und wartete geduldig ab.
Die Nacht brach schnell herein und in der Dunkelheit war für einen Moment nichts zu sehen. Doch dann geschah etwas, was den Plänen des Schattenalps schaden konnte. Zuerst sah er nur ein schwaches Leuchten. Doch dann flogen langsam zwei Kreaturen auf und ab, die Vagho als Geister bezeichnen konnte. Ihre Statur ähnelte den großen und kräftigen Bergtrollen.
Vagho wusste aus den Erzählungen der Tieflandzwerge, dass auch sie diese Bergtrolle früher als Sklaven gehalten hatten. Die Wüstenzwerge hatten sie also in dem Bergwerk von Saphira zur Arbeit gezwungen. Es erschien ihm logisch, dass der Magier Saltar sie dann irgendwie umgebracht hatte, damit sie ihm als Geister dienten und das Bergwerk bewachten. Sicherlich war die Magie von Saltar sehr schwer zu brechen. Aber was wäre Vagho für ein Schattenalp, wenn er es nicht probieren würde? Und er musste es probieren, denn er hatte schon längst keine Wahl mehr.
Langsam zog er seinen Zauberstab aus seinem Gürtel und seine Augen verfolgten jede Bewegung der beiden Geister, die vor dem Bergwerk Wache hielten. Er wollte sie gerade mit einem Trick ablenken, um unbemerkt den Eingang zu erreichen, da zuckte ein Blitz durch den nächtlichen Himmel. Für einen kurzen Augenblick war die Umgebung vor dem Eingang taghell erleuchtet. Doch außer den beiden Geistern war niemand zu sehen. Wieder zuckte ein Blitz zum Himmel und Vagho duckte sich hinter den Kisten. Als er wieder zum Eingang sah, zogen sich die beiden Geister gerade in das Bergwerk zurück und das schaurige Lachen der Janus-Elfen war zu hören.
Der Schattenalp zögerte nicht länger und sprang hinter den beiden Kisten hervor. Er rannte zum Eingang des Bergwerks und sah hinein. Ein dritter Blitz folgte und Vagho stand plötzlich mitten im Licht. Er huschte schnell in die Dunkelheit des Bergwerkes und drückte sich an die nächste Wand. Da er nun im Schatten stand, konnten ihn die Geister nicht sofort sehen. Ein gutes Dutzend zog an dem Schattenalp vorbei, ohne den Eindringling zu bemerken. Ihre Aufmerksamkeit galt nur den Blitzen, die weiter durch die Nacht zuckten.
Vagho verstand nicht, was sich die Geister zuraunten. Doch sie versammelten sich alle kurz vor dem Eingang und ihre Stimmen klangen wie das Brummen eines wild gewordenen Bienenschwarms. Das nutze der Schattenalp aus, denn er konnte sich nun ungestört ein wenig umsehen.
Der