Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783957840127
Скачать книгу
ist frei.«

      Wichmann trat ein.

      Die indifferente und respektvolle Miene, die dem neu angestellten Assessor angesichts des ihm vorgesetzten Ministerialdirektors zukam, war ein Schild vor Wichmanns Empfindungen. Dieser amtlich angenommene Ausdruck aber, mit dem er eine Verwirrung seines Innern verbarg, steigerte diese Verwirrung nur, denn der Natur des jungen Mannes war Heuchelei noch fremd. Er fühlte sich befangen in den Fäden seiner eigenen Gedanken und Gefühle, die er der Phantasievorstellung »Boschhofer« gegenüber gehegt hatte, und vermochte es nicht mehr, dem Manne, vor dem er stand, frei in die Augen zu sehen.

      »Nehmen Sie Platz.«

      Da kein schlichter Stuhl in der Nähe war, rückte Wichmann den lederbezogenen Sessel, der neben dem Schreibtisch stand, zurecht und ließ sich nieder. Der Sessel war kurzbeinig. Der Assessor versank darin und schaute, aus unnatürlicher Tiefe, hinauf zu der unnatürlichen Höhe der Masse Boschhofer und den runden Brillengläsern.

      »Sie sind zu uns einberufen worden. Ich würde gern von Ihnen hören, was Sie von Ihrer Arbeit hier erwarten.« Die Stimme klang volltönend zwischen vollen Lippen hervor. Der Sprecher hatte die Ellbogen auf die Lehnen seines Schreibtischstuhles gestützt, und seine Finger berührten sich vor dem gewölbten Leib. Wichmann schätzte auf annähernd zwei Zentner, dennoch wirkte der Koloß nicht unförmig, die Größe glich aus.

      »Ich hoffe, eine neue Materie kennenzulernen und dabei einiges Nützliche zu leisten.« Wichmann war unzufrieden mit sich; er fand seine Antwort schülerhaft.

      »Sie müssen selbständig sein und Ideen haben … Energie, Initiative entwickeln … Ministerialrat Nischan hat Wert auf Ihre Einberufung gelegt. Es ist mein Prinzip, die Jugend zu uns heranzuholen, endlich einmal frisches Blut in unseren alten Bau! Sind Ihnen schon Arbeiten übertragen worden?«

      »Eine Zusammenstellung zu den kommenden Etatverhandlungen … habe ich Herrn Ministerialrat Grevenhagen vorgelegt.«

      Der Ministerialdirektor schien den anderen Namen zu überhören. »Sie müssen sich nicht in Ihr Referat hineinwühlen wie ein Maulwurf, der für alles andere blind wird. Schauen Sie sich um, ein Beamter muß mit allem Bescheid wissen heute! Haben Sie sich schon für Wirtschaft und für Konjunktur interessiert?«

      »Nebenbei – ja.«

      Der Antwortende erinnerte sich daran, daß ihm eine ähnliche Frage aus anderem Mund am Tage zuvor gestellt worden war.

      »Ich habe da … das können Sie sich einmal ansehen … vertraulich …« Aus einem Seitenzug des Schreibtischs kamen vier geheftete Blätter hervor.

      »Hier … hm … – …« Boschhofers mächtige Pfoten blätterten und griffen nach einem Stift, »… da … schauen Sie sich das einmal an … oder … hm …« Die Masse des Leibes schob sich vor, und die Pranke malte eine rote Schlange. »Was sagen Sie dazu … warum mache ich hier ein Fragezeichen?«

      Oskar Wichmann nahm die Blätter in die Hand.

      Die Buchstaben hatten andere Typen, sie waren nicht mit der Adlermaschine geschrieben.

      Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung … Rotes Fragezeichen.

      »Um mich hereinzulegen, Herr Ministerialdirektor.«

      Wichmann war zumute wie im Gebirge bei einem Sprung über einen Abgrund.

      »Haho … um Sie hereinzulegen! Lieber Herr Assessor …« Boschhofer wurde beweglich und beugte sich weit über die Schreibtischplatte hinüber zu dem jungen Mann, der in dem kurzbeinigen Sessel saß und den kalten Schweiß in den Handflächen fühlte. »Hoha … Sie haben es hinter den Ohren. Das gefällt mir! Nur nicht verblüffen lassen! Ich sage manchmal etwas, nur um den andern zu prüfen, um zu sehen, ob er selbständig denken kann. Hereinzulegen, ausgezeichnet! Sie werden Ihren Weg machen, junger Mann! Denken Sie einmal daran, daß ich Ihnen das gesagt habe. Hereinzulegen! Hoha. Lesen Sie nur das ganze Blatt … und sagen Sie, was Sie dazu meinen.«

      »Der Inhalt ist mir bekannt, Herr Ministerialdirektor.«

      Boschhofer lehnte sich zurück, die Lehne knackte. »Ach so? Bekannt?! Um so besser. Nun?«

      »Es ist das erstemal, daß ich auf die Voraussicht einer wirtschaftlichen Katastrophe gestoßen bin, Herr Ministerialdirektor.«

      »Soso, das erstemal. Und?«

      »Die Darlegungen scheinen ebenso verblüffend wie einleuchtend.«

      »So. Meinen Sie. Wer kann denn ein Interesse an einer Katastrophe haben? Verstehen Sie mich? Ein Interesse?«

      »Niemand, Herr Ministerialdirektor. Weder die amerikanischen Gläubiger, die ihr Geld hier investieren, noch wir selbst, die das Ledigwerden von Verpflichtungen durch Zahlungsunfähigkeit mit großem Elend büßen müßten.«

      »Sehr zierlich ausgedrückt … aber Sie haben recht. Niemand hat ein Interesse daran außer einigen Narren. Es grenzt an Vaterlandsverrat, solche Dinge an die Wand zu malen … verstehen Sie? Wollen Sie mir Ihre Formulierungen einmal kurz schriftlich niederlegen? Für mich persönlich?«

      Wichmann strich über die Armstütze des Sessels. Seine Augen hatten sich gesenkt. »Ich arbeite in dem Referat von Herrn Ministerialrat Grevenhagen, Herr Ministerialdirektor.«

      »Grävenhagen …?«

      Wichmann erschrak. Der Götze vor ihm hatte die Maske gewechselt.

      »Ah so. Grävenhagen? Dann war das ein Irrtum … Und jetzt haben Sie Angst vor dem Grävenhagen, was?«

      Wichmann ärgerte die respektlose Art, in der Boschhofer von Wichmanns Vorgesetztem sprach. »Angst? Ich habe keine Ursache, Herr Ministerialdirektor.«

      »Der Grävenhagen hält seine jungen Leute sehr unselbständig. Bleiben Sie nicht im Zustand eines Schulkindes. Ich rate Ihnen das! Wovor fürchten Sie sich denn? Zehn Jahre Altersunterschied machen den Kohl nicht fett und den Verstand nicht immer schärfer. Sie müssen sich auf Ihr eigenes Urteil verlassen, Herr Assessor. In Ihrem Alter ist der Grävenhagen schon was weiß ich gewesen. Nun? Wie steht’s?«

      »Ich habe anzunehmen, daß Sie, Herr Ministerialdirektor, mir einen dienstlichen Auftrag erteilen wollen?«

      »Ich will gar nichts … Bewahren Sie Ihre Unschuld, mein Kind. Wie formulierten Sie das vorhin so hübsch? Einen Augenblick …«

      Die Pranke drückte auf den Knopf, die Zwischentür öffnete sich, und Frau Lundheimers industrieblonde Locken erschienen.

      »Bitte schreiben Sie …«

      Die Dame nahm an dem runden Tisch Platz, der zwischen Ledersofa und Klubsesseln stand.

      »Schreiben Sie: ›An einem wirtschaftlichen Zusammenbruch kann niemand interessiert sein, und er wird daher auch verhindert werden, selbst wenn sich einige Tendenzen dazu zeigen sollten. Die amerikanischen Gläubiger, deren Kapital hier investiert ist, haben an der Erhaltung des wirtschaftlichen Aufschwungs ein ebenso großes Interesse wie die deutsche Wirtschaft selbst, die das Ledigwerden von einigen Zahlungsverpflichtungen nicht mit einer Katastrophe erkaufen kann oder will. Jede andre Auffassung ist Desperadopolitik und amtlich aufs schärfste abzulehnen, wo sie auch hervortreten mag … Ja, schreiben Sie das vorläufig einmal. Mit einem Durchschlag.«

      Frau Lundheimer zog sich zurück.

      »Nun, mein Herr Assessor …«

      Wichmann stand auf.

      »Sie können mir etwas darüber erzählen, wo Sie eigentlich herkommen. Ihr Vater war bei den Christlichen Gewerkschaften?«

      Das ›Nein, sondern … ‹ konnte Wichmann nicht aussprechen, denn das Telefon rief. Der Ministerialdirektor nahm den Hörer ans Ohr.

      »Ach so … ist schon Viertel nach zehn Uhr? Ja, ich lasse bitten.«

      Wichmann machte einen erneuten Versuch, sich zurückzuziehen, der aber von Boschhofer verhindert wurde. »Warum so eilig, mein junger Mann?