»Rendezvous in drei Minuten«, sagte Jennifer.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Frontscheibe zu. Und dann rückte das Ziel dieses Fluges allmählich nahe genug heran, dass wir es mit bloßem Auge wahrnehmen konnten. Anfangs waren es winzige, silbrig perlende Lichtpunkte, die sich vor den gewaltigen blaugrünen Gaswirbeln des Neptun abzuheben begannen. Dann schoben sie sich auseinander, wurden zu Perlenschnüren. Schließlich schuppten sich, wie bei einer Zellteilung, die sich im Zeitraffer vollzog, zwei längliche Strukturen auseinander. Es war, als wenn sich zwei DNS-Stränge voneinander lösten und langsam weiter auseinander schwebten. Gewebe, so zerbrechlich und filigran, dass sie am unteren Ende der Sichtbarkeit angesiedelt waren, aber zugleich so komplex und robust, dass sie den Eindruck unwiderleglicher Macht verströmten.
»Sieh doch …«, sagte Jennifer, und der warme Glanz ihrer Stimme reichte hin, mir die Begeisterung zu vergegenwärtigen, die in ihren Augen loderte. Ich richtete mich in meinem Gravisessel auf, um über ihre Schulter hinweg nach vorne sehen zu können. Selbst in die Gruppe der Tloxi kam Bewegung.
Und dann sahen wir die gewaltigen, kilometerlangen Gerüste, in denen das Skelett der MARQUIS DE LAPLACE II montiert wurde, des Schwesterschiffs unserer treuen MARQUIS DE LAPLACE, deren Jungfernflug zum Sirius geführt hatte und die nun flottgemacht wurde, einige Tausend Galaxien in der Großen Mauer zu erkunden.
Das neue Schiff würde etwas kleiner und bedeutend leichter sein. Die weiterentwickelte Warptechnologie machte es möglich, auf 60 Prozent der Masse des Reaktorblocks zu verzichten. Dennoch war das Titanstahlskelett beeindruckend genug: Über zwölf Kilometer lang hing es in den gravimetrischen Gerüsten, die auf einem hohen Orbit über den blauen Methanwolken des Neptun schwebten. Zehntausende von Tloxi wuselten darauf herum. Sie hatte ihre kollektive Intelligenz mit unseren KI-gestützten Automaten verschaltet und arbeiteten Hand in Hand mit unseren Schweißrobotern, Lastenträgern und Drohnen zusammen. Menschliche Arbeiter waren auf der Baustelle kaum anwesend. Einzig einige Bauingenieure, deren einsitzige Scooter an den gelben Blinklichtern erkennbar waren, schnellten zwischen den Bauabschnitten hin und her und koordinierten die Fortschritte der Arbeiten mit ihren Masterboards. Über Engstrahl kommunizierten sie mit der kollektiven Intelligenz der Tloxi.
Einige Kilometer entfernt, im schwachen Licht des Neptunraums als fernes Glitzern erkennbar, entstand die MARQUIS DE LAPLACE III. Die Arbeiten erfolgten synchron, die Schiffe wuchsen simultan aus ihren stählernen Kokons hervor wie der rechte und der linke Arm eines Embryos, der im Fruchtwasser seiner Geburt entgegenreift.
Pausenlos öffneten sich Warpkorridore, und riesige Schiffe materialisierten aus dem Hyperraum. Es waren Frachter, Transportschiffe, die Millionen und Abermillionen Tonnen Titan und anderer Rohstoffe von unseren Kolonien in allen Teilen der Galaxis herbeischafften. Von Lambdatriebwerken der neuesten Generation gesteuert, durchtunnelten die megatonnenschweren Schiffe in Augenblicken Tausende von Lichtjahren und versorgten die titanischen Schmieden, in denen unsere neuen Schiffe wuchsen, mit Nachschub. Er wurde von den zahlreichen Völkern und Welten bereitgestellt, die wir aus der Diktatur der Sineser befreit hatten und die nun mit uns Handel trieben, oder auch von unseren eigenen Asteroidenminen im Eschata-Nebel, noch jenseits des Kleinen Korridors, weit außerhalb der Milchstraße.
Die Ressourcen mehrerer Galaxien standen zu unserer Verfügung, ausgebeutet vom Ingenium unserer Techniker und dem Fleiß der Tloxi, vertraglich vereinbart mit Dutzenden von Zivilisationen, die wir noch kaum dem Namen nach kannten. Wir wussten bislang nicht viel mehr von ihnen als eben das, dass sie von Sina unterdrückt und versklavt gewesen waren. Wir hatten ihnen die Freiheit geschenkt und sie durch faire Verträge an uns gebunden. Dennoch sahen wir uns unüberschaubarer Fremdheit gegenüber.
Fasziniert ließ ich die Blicke über den kosmischen Bauplatz schweifen. Wenige Tausend Meter neben uns blähte sich der plasmablaue Rüssel eines Warpkorridors auf und spie eine tropfenförmige Cargodrohne aus. Sie materialisierte wie ein Holobild, das sich mit einigen leichten Störungen und Verzerrungen über einem Masterboard aufbaut, und glitt dann an uns vorbei. Es war ein gewaltiges Schiff von mehreren Millionen Bruttoregistertonnen. Seine Form glich der eines Kugelfisches, der sich drohend aufgeblasen hatte. Kurze Stummelflügel trugen die Steuerraketen, die pausenlos feuerten, um die ungeheure Masse auf ihren Rendezvouskurs auszurichten. Hinter dem Dorn des Haupttriebwerkes köchelten die Rückstände der Fusionsprozesse, die es in Augenblicken von einer der Verladestationen bei Eschata I, einige Hunderttausend Lichtjahre entfernt, hierher katapultiert hatten. Es ging vor uns herunter und schwenkte auf die Längsachse der im Entstehen begriffenen MARQUIS DE LAPLACE II ein, die es für die nächsten Tage mit frischem Rohstahl versorgen würde. Das vollautomatische und unbemannte Schiff hatte gewaltig gewirkt, als es lautlos an uns vorbeigezogen war. Jetzt wurde es winzig, als es sich dem unvollendeten Torso der MARQUIS DE LAPLACE näherte. Schließlich war es nur noch ein Tropfen vor der lang gestreckten Konstruktion.
»Das war knapp«, sagte ich.
Jennifer hob vor mir die Schultern.
»Die Warptunnel münden in feste Korridore«, erklärte sie. »Der Leitstrahl hat uns auf Sicherheitsabstand gehalten.«
Ich kratzte mich am Kinn und sah der Cargodrohne nach, die tief unter uns mit dem arbeitsamen Gewusel verschmolz.
»Sicherheitsabstand«, brummte ich. »Zu meiner Zeit …«
Jetzt wandte sie sich doch in ihrem gravimetrischen Pilotensitz zu mir herum und zwinkerte mich fröhlich an.
»Bei unseren ersten Manövern dieser Art war der Mindestabstand zu festen Körpern auf zehn Millionen Kilometer definiert. Heute«, sie nickte zu unseren Passagieren, die mit glühenden Augen in der Backbordabsperrung der Brücke standen, »heute ist man der Meinung, fünftausend Meter seien ausreichend.«
Damit ließ sie ihren Sessel in die Ausgangsposition zurückschnellen. Die Tloxi zwei Armlängen zu meiner Linken verzogen nicht die Miene.
»Mag sein«, sagte ich unbehaglich. Dass wir, zumindest technologisch, zu Juniorpartnern dieser drahthaarigen Knirpse wurden, wollte mir nicht recht behagen. Aber mir war noch etwas anderes aufgefallen. »Zoom!«, sagte ich mit jenem unpersönlichen Tonfall, der auf die Automatik abgestimmt war. »Folge der Cargodrohne über dem Baugerüst!«
Die polarisierende Scheibe vor uns verwandelte sich in einen holografischen Monitor, der jetzt auf den linken unteren Bildausschnitt fokussierte und ihn in einem abrupten Satz heranholte. Wir sahen die tropfenförmige Drohne über den filigranen Auslegern der Elastalstahlträger dahingleiten. Es sah aus wie ein Kugelfisch, der über einen Korallengarten schwimmt. Sein Schatten folgte ihm, immer wieder perspektivisch zerbrochen und zerknickt, über den Rumpf des unfertigen Schiffes. In dieser Vergrößerung sah man einzelne Tloxi und Menschen, die Schweißroboter dirigierten oder automatische Lastenträger anwiesen. Silberne Reflexe blinkten an den metallenen Flächen und Kanten. Die charakteristischen harten Schlagschatten des atmosphärelosen Raumes stanzten schwarze Löcher auf die Planken aus Titan.
»Wo steht die Sonne?«, fragte ich.
Die Automatik unserer braven ENTHYMESIS benötigte für die Antwort keine Sekunde. Tatsächlich hatte sie diese in einer Nanosekunde parat, stellte sie aber lange genug zurück, um sich der trägen menschlichen Aufmerksamkeit versichert zu wissen.
»9:42 Uhr, Azimut: -3,76°.«
Was so viel hieß wie: halblinks unter uns. Wie konnte sie dann auf den Bauplatz, der ebenfalls links unter uns war, Schatten werfen, noch dazu derartig harte Schlagschatten? Wir waren sieben Milliarden Kilometer von unserem Zentralgestirn entfernt.
Ich schüttelte irritiert den Kopf.
»Jetzt weiß ich, was du hast«, schmunzelte Jennifer. Sie schaltete die Steuerbordaußenkamera