»Dann soll es nun soweit sein«, rief die riesenhafte, weibliche Gestalt mit widerhallendem Echo. »Lass mich mit Hilfe dieses Jungen zurückkehren und meine Aufgabe zu Ende bringen.«
Kaum hatte sie diese Worte fertig gesprochen, stieß sie den völlig überraschten Moritz so heftig mit ihrem Stock, dass er nach hinten aus dem Fenster fiel. Und obwohl er aus der zweiten Etage fiel, war es, als würde Moritz in einen schier endlosen, lichtlosen Abgrund stürzen, der ihm jede Besinnung raubte.
3. Der Auftrag
Ein Rascheln weckte Moritz. Er lag auf einer Wiese und blinzelte in einen azurblauen Himmel. Wo war er hier?
Hinter ihm ragte eine Bergkette steil auf. Die Berge waren so hoch, dass sie irgendwann weiß wurden und Wolken ihre Spitzen verdeckten.
Ganz in seiner Nähe befand sich ein Stein, ein Findling.
Unterhalb der Wiese gab es einen Wald, dessen Bäume eine üppig gewachsene Krone besaßen, durch die das Sonnenlicht kaum durchdringen konnte.
Moritz runzelte die Stirn. Alles, an was er sich erinnern konnte, war dieser Sturz aus dem Fenster … Plötzlich wurde das Rascheln neben ihm immer lauter. Irgendetwas um ihn herum ging vor sich, von dem er nicht wusste, was es war. Ehe er sich den Geräuschen zuwenden konnte, spürte er etwas an seinem Ohrläppchen kitzeln und im nächsten Moment machte es auch schon Zwick. »Autsch!«, zuckte Moritz seinen Kopf zur Seite, aber das Zwicken wollte nicht nachlassen. Er fühlte eine Pflanze, zog an ihr, doch so einfach mochte sie nicht klein beigeben. »Lass los, du blödes Mistding«, knurrte er. »Ich habe keine Lust auf Löcher im Ohr, bloß weil du mich mit deinem Essen verwechselst. Such dir gefälligst was anderes!« Er presste die Lippen aufeinander und zerrte die Pflanze schließlich ab, hielt das etwa zehn Zentimeter große Gewächs hoch und sah es an. Vom Stängel bis zum Kopf war es ganz grün und sah ein klein wenig aus wie eine Hagebutte. Oben an der Spitze konnte er eine Öffnung erkennen, die reflexartig auf- und zuschnappte.
Kleine, spitze Zähne lauerten dort ringsherum auf fleischhaltige Opfer. Aber nicht mit mir, dachte Moritz und stand auf.
Nachdem er sich die Pflanze noch etwas angeschaut hatte, holte er aus und schmiss sie in die grüne … Jetzt erst erkannte er, in was er da eigentlich stand – eine Wiese mit jeder Menge kleiner, gefräßiger Pflanzenmonster.
»In was bin ich da bloß reingeraten?«, zupfte sich Moritz nervös am Ohr.
»Wenn du willst, helfe ich dir auf die Sprünge«, hörte er eine Stimme antworten.
»Hä? Wer ist da?« Überrascht blickte sich Moritz um, konnte jedoch nirgends einen erkennen. »Was soll denn das Ganze?«
»Mein Name ist Kriemhild von den Kupferhöhlen oder für dich, Frau Müller.«
»Frau Müller? Wo sind Sie?«
»Immer noch in deiner Welt. Aber nicht mehr lange. Mit deiner Hilfe werde ich zurückkehren können.«
»Was soll das heißen?«
»Was das heißen soll? Dass du etwas für mich tun sollst!«
»Und warum machen Sie das nicht selbst?«
»Oh, gehst du mir auf die Nerven. Das ist ja schlimmer wie Spinnenkraut.«
»Ist mir egal. Ich werde einer ollen Hexe wie Ihnen nicht helfen. Sie können mich jetzt wieder zurückholen und sich einen anderen suchen, der was auch immer für Sie erledigen soll.«
»Geht nicht.«
»Wie, geht nicht? Ich will wieder nach Hause!« Moritz fühlte sich schrecklich, so ganz allein in dieser fremden Welt. Das durfte einfach nicht wahr sein! Er war kurz davor, einen Wutanfall zu bekommen.
»Was glauben Sie eigentlich, wie lange es dauert, bis meine Mutter mich vermisst?«
»Das wird sie gar nicht merken. Es ist die Zeitspanne der Sonnenfinsternis, die es mir möglich macht, dich hierher zu schicken. Bevor sie vorbei ist, bist du wieder zurück. Aber nur, wenn du mir was Schönes mitbringst.«
»Was wollen Sie denn haben? Vielleicht noch ein Ei? Allerdings kann ich hier nichts entdecken, wo man so etwas kaufen kann. Dann könnte ich Ihnen ein paar von diesen wunderschönen Blumen pflücken.« Moritz bückte sich und riss wahllos eine der Pflanzen heraus, ehe sie nach ihm schnappen konnte.
»Brrr«, hörte er es in der Luft rasseln. »Nimm gefälligst deine Finger aus meiner Wiese, oder … «
»Oder was? Ist außerdem gerade passiert. Und dass das Ihre Wiese ist, wundert mich gar nicht. Was ist das überhaupt für eine schräge Gegend hier?«
»Das ist Grünholm, mein Zuhause.«
Moritz sah sich um, ließ die Pflanze wieder fallen und blieb wie gebannt bei dem Wald hängen. »Und der Wald da unten?«
»Das ist der Kürbiswald.«
»Der was?«
Er bekam keine weitere Auskunft, Kriemhild hüllte sich für einen Moment lang in Schweigen. Als sie fortfuhr, sagte sie: »Ich denke, dass du dir inzwischen über deine Lage im Klaren bist, den Auftrag annimmst und erledigst. Immerhin bleibt dir nicht viel Zeit dafür. Also solltest du dich ranhalten.«
»Was soll das eigentlich für ein Auftrag sein?«
»Du sollst mir Anika bringen, die Tochter des Burgherrn zu Bogenwall. Sie wohnt in der Burg Drachenzahn.«
»Wieso das denn?«
»Das brauch dich nicht zu interessieren. Finde sie einfach und erfülle deinen Teil des Auftrags.«
»… Was, wenn sie nicht will? Wenn sie keine Lust hat, mit mir mitzukommen?«
»Dann bist du auf ewig in dieser Welt gefangen. Wirst sie eben dazu bringen müssen, mit dir zu gehen. Streng deinen Kopf an – lass dir was einfallen.«
Moritz überlegte, fand aber keine Möglichkeit, wie er sich aus dem ganzen Schlamassel befreien konnte. Ob er wollte oder nicht, und er wollte ganz bestimmt nicht, musste er versuchen, die Burg Drachenzahn und damit Anika zu finden.
»Gut, und wie komme ich dahin?«
»Du musst durch den Kürbiswald.«
Moritz riss die Augen auf. »Ich muss durch diesen Wald?«
»Ganz genau. Es ist der kürzeste Weg zur Burg. Aber nimm dich vor ihm in Acht. Halte dich eng an den Bäumen, dann kann dir so gut wie nichts passieren.«
»So gut wie nichts?« Das war eindeutig genug. »Das können Sie vergessen – auf keinen Fall gehe ich da durch!« Bockig trat Moritz gegen eine Pflanze und wieder war in der Luft ein Rasseln zu hören.
»Mach nicht so ein Theater! Lauf los, pass auf und denk an die Zeit.
In spätestens drei Tagen musst du zurück sein. Und nur, wenn die Sonne am höchsten Punkt steht, kannst