Moritz’ Mutter zuckte die Schultern. »Was wollen Sie dann?«
Frau Müller sah Moritz mit funkelnden Augen an. »Er kann mir helfen«, sagte sie schließlich.
Moritz blickte zu seiner Mutter auf. Bei was, schien sein Blick zu fragen.
»Und weiter?«, wollte sie von der Frau wissen.
Die dachte einen Moment lang nach, ehe sie sagte: »Ich habe hier in der Nähe einen Garten. Ich bräuchte etwas Hilfe bei der Pflege.
Wenn ihr Sohn«, sie sah jetzt wieder zu Moritz, »mir bei einigen Sachen zur Hand geht, werde ich über die Sache mit dem Ei hinwegsehen. Und auch über die anderen Dinge, die er sich geleistet hat.«
»Hä? Ich … «, wollte Moritz ansetzen, schluckte jedoch den Rest seines Satzes hinunter. Dass er das mit dem Schneeball und den Tomaten ganz bestimmt nicht war, hätte er ihr sagen können. Das aber verdrückte er sich – man verrät ja seine Freunde nicht.
Seine Mutter stand noch immer mit verschränkten Armen da und schien zu überlegen. »Wo ist denn dieser Garten?«, fragte sie Frau Müller und neigte den Kopf leicht zur Seite.
Erneut zögerte Frau Müller, als müsste sie sich erst einmal mit ihren Gedanken einig werden. »In der Nähe des Auenwaldes«, drückte sie schließlich kaum verständlich durch die Zähne. Offenbar war sie nur widerwillig bereit, das Rätsel zu entlüften.
»Bitte wo?«, wollte sie nochmals wissen und erwartete, dass sie das Puzzleteil aufdeckte. »Geht das nicht ein bisschen genauer?«
»Er wird den Weg ganz sicher finden. Dafür werde ich schon sorgen.« Jetzt bekam ihre Stimme einen ungewohnten weichen Klang.
Davon aber ließ sich Moritz’ Mutter nicht beeindrucken. Abschätzig schüttelte sie den Kopf. Das war ihr eindeutig zu wenig.
»Wenn ich nicht genau weiß, wo mein Sohn sich aufhält, werde ich ihn nirgendwo hinschicken!«
»Wie ich bereits sagte, er wird den Weg sicher finden. Und mehr als Unkraut ziehen und einige Heilkräuter anpflanzen wird nicht nötig sein.« Mit einem durchdringenden Blick sah Frau Müller die Mutter von Moritz an, auf das jeder weitere Einwand in ihr verstummen sollte.
Die legte den Kopf zurück, nahm ihn wieder vor und nickte bedächtig. »Na gut, ich bin einverstanden.«
Moritz knirschte mit den Zähnen. Sie hatte sich von dieser Frau rumkriegen lassen. Wieder sah er sich in der Falle sitzen.
»Geht das klar?«, sah sie Moritz an.
Der senkte geschlagen den Blick. »Meinetwegen«, murmelte er.
»Morgen Punkt zehn Uhr soll er anfangen«, bestimmte Frau Müller.
Auch dagegen konnte Moritz sich nicht wehren, es war nun beschlossen. Zum Abschluss zog Frau Müller die verborgene Hand aus ihren Sachen, streckte sie nach ihm aus und berührte seinen Kopf.
Moritz, der der Hand keinen Blick schenkte, fühlte etwas Hartes, etwas Metallisches, was einen ihrer Finger umschloss. Einen Ring, von dem etwas ausging, was er sich nicht erklären konnte. Eine Kraft, die seinen Körper mit Wärme erfüllte. Plötzlich zuckte Moritz für den Bruchteil einer Sekunde zusammen und hatte dann eine Landschaft vor Augen, wie er sie zuvor noch nie gesehen hatte. Er wusste nicht warum das alles passierte, er ließ sie einfach so gewähren. Auch seine Mutter schaute zu, und nahm es als gut gemeinte Geste. Sie spürte nichts von dem, was Moritz fühlte und sah.
»Du wirst den Weg sicher finden«, wiederholte Frau Müller und nahm die Hand von Moritz’ Kopf. Mit einem kleinen Lächeln wandte sie sich ab und ging die Treppen wieder nach unten.
Moritz blieb noch eine Weile stehen, überlegte, was ihm eben widerfahren war, aber er konnte es nicht begreifen, es war einfach zu verrückt, um real zu sein. Allmählich verschwand die fremde Wärme wieder aus seinem Körper.
Inzwischen hatte seine Mutter die Tür verschlossen und war ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Nach dem Moritz sich wieder gefasst hatte, lief auch er ins Wohnzimmer und setzte sich in einen Sessel.
Im Augenwinkel konnte er sehen, wie seine Mutter die Stirn runzelte und nachdachte.
Schließlich sah sie Moritz an und fragte ihn, was er sich bei der Sache mit dem Ei bloß gedacht hatte.
»Ach, Mum, ich hab wirklich nicht …«, versuchte er sich zu verteidigen. Die restlichen Worte konnte er sich getrost sparen, sie würden sie ja ohnehin nicht zum Einlenken bewegen können. Er stand auf, ging zum Fenster und sah mit heimlichem Blick zu seiner Mutter, wie sie deutlich den Kopf schüttelte. »Nur Flausen im Kopf.«
Moritz wandte seinen Blick von ihr, sah auf die Straße und beobachtete, wie der leichte Wind ein paar Zeitungsblätter über den Asphalt schob, die eigentlich in die Briefkästen der Leute gehörten.
»Du wirst noch mal losgehen müssen, um Eier zu kaufen«, sagte seine Mutter, während sie in einem dicken Katalog zu blättern begann. »Ich hatte sie genau abgezählt, und ja, jetzt fehlt eins.«
Moritz nickte kurz und sah weiter aus dem Fenster. Er dachte an den Kuchen, den sie für sie beide backen wollte, und ohne genügend Eier ging das nun mal nicht. Bevor er los wollte, mochte er noch etwas die Straße beobachten. Besonders, wie das Papier über sie hinweg glitt, fast schon tanzend … Da lenkte ihn etwas anderes ab. Aus dem Hauseingang tauchte Frau Müller wieder auf. Sich auf ihren Stock stützend, bewegte sie sich mühsam an zwei parkenden Autos vorbei, um auf die andere Seite zu kommen. Als sie ungefähr auf der Hälfte der Straße war, kam ein Auto angefahren, blieb hupend stehen, und wartete, bis die Frau vorüber war. Die dankte es dem Fahrer, indem sie drohend ihren Stock gegen ihn erhob und mit beiden Händen herumzufuchteln begann. Zudem stieß sie wilde Flüche aus. Wie der Fahrer auf die Frau reagierte, konnte Moritz nicht erkennen, dafür entdeckte er etwas anderes. War Frau Müller eben noch mit Ei besudelt, war jetzt nichts mehr davon zu sehen.
Und dann dieser Ring an ihrer Hand. Ein Ring, der mit einem seltsamen, grüngelben Kristall bestückt war. Auch wenn er hier oben hinter den Gardinen stand, konnte Moritz ganz deutlich das Funkeln des Kristalls erkennen.
Mit einem Mal hatte es Moritz richtig eilig. Er verlangte das Geld für den Einkauf und schlüpfte wieder in seine Schuhe. Dann ging es im Eiltempo nach unten. Und wie er die Treppenstufen herunterstürzte, fiel seiner Mutter ein, was er außer den Eiern noch mitbringen sollte. Das Geld dazu, rief sie ihm nach, müsste eigentlich reichen.
»Ja, bring ich mit«, hörte sie Moritz rufen, dann einen Sprung und die Haustür schlug hinter ihm zu.
2. Verfolgung mit Folgen
Unschlüssig blickte Moritz zu beiden Seiten der Straße. Wenn Frau Müller ihm nicht entwischen sollte, musste er sich entscheiden. Und das sofort!
Da kam eines von den Zeitungsblättern auf ihn zu und blieb an seinem Schuh hängen. Moritz wollte es erst abschütteln, aber als er nach unten sah, wurde er stutzig. Auf der ihm zugewandten Seite stand in großen Buchstaben das Wort LINKS. Einen Augenblick überlegte er. Gab die Zeitung ihm einen Hinweis, in welche Richtung er laufen sollte? Er fasste einen Entschluss und lief los. Nach links. Und wie er um die nächste Ecke bog, sah er Frau Müller in Richtung des großen Stadions laufen, auf der Seite, wo Bäume und Sträucher den Weg säumten. Eine gute Gelegenheit, dachte er, sie zu beschatten. Vielleicht könnte er etwas über sie herausfinden. Und da außer ihm und Frau Müller kein anderer auf diesem Weg zu sehen war, lief Moritz zu ihr hinüber. Er entdeckte einen Ahornbaum, hinter dem er sich verstecken wollte, trat aber auf dem letzten Meter auf einen knorrigen Ast und machte damit Frau Müller auf sich aufmerksam. Ehe sie sich ganz umdrehen konnte, hatte sich Moritz bereits mit einem Sprung in den Schatten des Baumes gerettet.