Ein Leben in zwei Welten. Gottlinde Tiedtke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gottlinde Tiedtke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Эзотерика
Год издания: 0
isbn: 9783946959793
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der Erste Weltkrieg tobte, wurden viele Ärzte an die Front geschickt. Die Frauen traten an ihre Stelle, mussten die Kranken pflegen und manchmal sogar den Mediziner ersetzen. Meine Großmutter war pausenlos im Einsatz, denn nach ihrer Heirat hatte man sie zur Assistentin des hiesigen Landarztes erkoren. Als auch dieser einberufen wurde, war sie auf sich selbst gestellt. Dank ihrer Intuition und ihrem Wissen war sie sehr schnell im ganzen Umkreis bekannt. Sie arbeitete mit Kräutern, Homöopathie und Handauflegen.

      Schließlich war Krieg und es gab kaum Medikamente.

      Einmal kam ein Junge zu ihr, der sich den Griff einer Holzgabel ins Auge gerammt hatte. Der Augapfel hing weit heraus. Meine Großmutter desinfizierte kurzerhand die Augenhöhle und drückte den Augapfel wieder an seinen Platz zurück. Der Junge bekam keine Infektion und behielt sein Augenlicht.

      Was Großmutter Tosca und meine Mutter Johanna verband, war eine Gabe, die sich mehr als einmal auch als Fluch erweisen sollte. Johanna war eine Seherin, sie wusste weit vor der Zeit, wenn ihre Patienten dem Tod geweiht waren. Auch sprachen diese innerlich zu ihr, bevor sie ihre Augen schlossen, und verabschiedeten sich. Jedes Mal schlug dann die Uhr zu einer unerwarteten Zeit, ein Glas zersprang und kurz darauf erzählte sie uns, wer gegangen war.

      Die Truhen und der Teufel

      Oftmals rief man meine Großmutter spät in der Nacht:

      „Frau Kantor, können Sie bitte kommen, da ist wieder einer, der nicht sterben kann.“

      Großmutter Tosca als Diakonissin mit ihrer Schwester Isolde

      Es war eine Zeit voller Aberglauben und Hexerei.

      Viele überlieferte Sagen rankten sich um das raue Erzgebirge. Wenn jemand nicht sterben konnte, dann glaubte man, dass er es mit dem Teufel hielt.

      Meine Großmutter berichtete von vielen solchen Fällen. Oft sagte sie dann: „Ja, mit dem lieben Gott hat dieser es nicht zu tun haben wollen. Ich habe ihm Pferdedung auf den Kopf gelegt, damit er endlich die Augen schließen konnte.“

      Ich war nicht sonderlich erstaunt über solche Äußerungen.

      Zu jener Zeit wusste jeder im Erzgebirge, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab. Man wusste um Schwüre, seltene Kräuter, Nixen, Feldgeister, Kobolde, Riesen, Waldteufel, die Macht der Magie.

      Noch dazu wohnten meine Großeltern in einer alten Schule, in der oftmals unheimliche und unbegreifliche Dinge vor sich gingen. Man hörte seltsame Geräusche, flüsternde Stimmen, Sachen verschwanden oder bewegten sich auf unerklärliche Weise.

      Oft erzählte meine Mutter von einem ganz besonderen Spuk, der sich immer auf dem alten Dachboden ereignete, wenn die „große Wäsche“ gemacht wurde:

      Gewaschen wurde nur alle vier Wochen im separat gelegenen Waschhaus. Jedes Mal galt es, einen riesigen Berg Wäsche zu bewältigen. Der große Kessel wurde den ganzen Tag mit Holz beheizt, um dann Bottich für Bottich befüllt zu werden. Nach dem Kochen lief die Wäsche durch eine große Presse. Bei schlechtem Wetter wurde die Wäsche auf dem alten Dachboden getrocknet.

      Der Schuldachboden war ein unheimlicher Ort. Voller Spinnweben und dunkler Nischen. Man lief über knarrende, staubige Dielen.

      Nur spärlich drang das Tageslicht durch die Dachsparren und es roch nach Kräutern, die meine Großmutter dort trocknete.

      Jedes Mal, wenn meine Mutter dort oben die Wäsche aufhängte, vernahm sie dicht an ihrem Ohr, manchmal auch in weiter entfernter Distanz eine Stimme, die sie bei ihrem Namen rief. Jedes Mal lief sie dann die alte Holztreppe mit den ausgetretenen Stufen hinunter und fragte meine Großmutter: „Was ist, hast du mich gerufen?“

      Eines Tages, als dies wieder passierte, nahm ihre Mutter sie zur Seite, strich ihr durchs Haar und sah sie mit ihrem durchdringenden Blick an: „Hör nicht hin, wenn sie dich rufen, und hab keine Angst.“

      Meine Mutter versuchte ihren Rat zu beherzigen, doch nicht immer gelang ihr das. Manchmal waren die Stimmen einfach zu unheimlich und sie fühlte eine dumpfe, negative Energie. Dann sputete sie sich und rannte so schnell sie konnte davon.

      Noch etwas Geheimnisvolles befand sich auf diesem Dachboden: zwei große, reich verzierte alte Holztruhen.

      Es hieß, sie wären aus der Zeit, in der die Pest gewütet hätte. Jeder, der sie geöffnet hätte, wäre gestorben.

      Meine Mutter war die Erstgeborene. Neben ihren Brüdern Karl, Gerhard und Helmut hatte sie zwei Schwestern namens Ruth und Gudrun.

      Die Truhen übten einen ganz besonderen Reiz auf die Kinder aus. Gleich einer Mutprobe setzten sie sich darauf, baumelten mit den Beinen und warteten. Dann dauerte es nicht lange, bis sie Stimmen vernehmen konnten, die ihre Namen riefen. Manchmal flüsternd neben sich, manchmal in langsam ziehenden Tönen von überall.

      In Rekordgeschwindigkeit rutschten sie dann von den Truhen und rasten in wilder Panik mit Donnergetöse die ausgetretenen knarrenden Stufen hinunter.

      Oft spürten sie auch einen eisigen Luftzug oder einen kalten Hauch, der sie umhüllte – trotz des warmen Sommers.

      Jahre später, als die alte Schule einer neuen weichen musste, hatte man die Truhen geöffnet.

      Es seien wunderschöne, reich bestickte und verzierte Kleider darin gewesen. Dennoch hatte man sie vorsichtshalber zusammen mit den Truhen verbrannt.

      Spukschule mit Glockenturm

      Neben all den merkwürdigen Vorgängen, die sich auf dem Dachboden der alten Schule ereigneten, sorgte auch eine alte Glocke für Gesprächsstoff.

      Der alte Wirt im Ort hatte all sein Hab und Gut verloren und war auf unerklärliche Weise zu viel Geld gekommen. Man munkelte, er würde es mit dem Teufel halten. Eines Tages erklärte dieser Gastwirt, dass er mit einem Pferdefuß begraben werden wolle, man sollte ihm diesen auf die Brust legen. Der ansässige Pfarrer gewährte ihm diesen Wunsch natürlich nicht, worauf der Alte wutschnaubend kundtat, dass zur Strafe in jedem Jahr an dem Tag, an dem sich sein Todestag jährte, die alte Glocke auf dem Schulboden ertönen würde.

      Als der Gastwirt eines Nachts zur Mitternachtsstunde verstarb, verspottete jeder im Dorf den alten Kauz. Doch prompt ein Jahr später, als bereits niemand mehr an die Drohung dachte, begann die Glocke genau an seinem Todestag zu schlagen.

      Erst sprach man von einem Zufall, doch dann wiederholte sich das Ereignis im nächsten und auch im kommenden Jahr.

      Nun nahmen die Dorfbewohner den Glockenschlag nicht mehr so heiter hin, sie bekamen es mit der Angst zu tun.

      In einem Jahr, in dem die Glocke gar nicht mehr aufhörte zu schlagen, entschied man sich, auf den Dachboden zu klettern, um diese zu stoppen, doch dies war ganz und gar unmöglich, die Glocke schlug und schlug.

      Schließlich musste man sie demontieren, nur so konnte man dem Spuk ein Ende setzen.

      Auch mein Großvater Bruno, der ein sehr belesener Mann mit scharfem Intellekt war, wusste gespenstische Geschichten zu erzählen. So war er in seiner Jugend mit einem Bauern auf einem Floß einen Fluss entlanggefahren. Es hatte ihn sehr verwundert, dass der Mann mehrere große leere Milchkannen mit sich führte. An den Henkel jeder Kanne war ein Seil gebunden, das in die Kanne ragte. Bald kamen sie an einem anderen Bauern vorbei, der am grasigen Ufer seine Kuh melkte. Prompt begann der Mann auf dem Floss fest an dem Seil zu ziehen, fast so, als würde er das Seil melken. Mein Vater staunte nicht schlecht, als sich die Kanne zusehends mit Milch füllte.

      Der melkende Bauer am Ufer brachte in der Zwischenzeit keinen Milliliter Milch aus dem Euter seiner Kuh heraus.

      Er schrie hinüber zum Floß, kam ans Ufer gelaufen, fluchte und hantierte wild mit seinen Händen in Drohgebärden. Doch der Bauer auf dem Floß lachte nur. Dieses wundersame Ereignis soll