Aufzuspüren ist hier das anfangs bereits bedachte Paradoxon materialistischer Philosophie, dass sie das Denken mit Problemen konfrontiert, die sich im Medium des Denkens nicht lösen lassen. Schmidt zögert deshalb nicht, im Zuge seiner Konstruktion eines kritischen Materialismus einen Wechsel der Ebenen vorzunehmen und sowohl die leibzentrierte Willensmetaphysik Schopenhauers eingehend zu rekonstruieren als auch die Metapsychologie bzw. Trieblehre Freuds intensiv zu studieren, um das Aufklärungspotenzial der beiden Konzeptionen auszuloten und von seinen eigenen Prämissen aus miteinander in Beziehung zu setzen.59 Die Frage, was dies mit Marx und dem Materialistischen seiner Theorie zu tun hat, ist sicher nicht fehl am Platz.
Alfred Schmidt ist uns die Antwort nicht schuldig geblieben, denn er hat uns diese Lehre erteilt: Ein Materialismus, der etwas taugt, ist in sich reflektiert, ohne dem Spielraum assoziativer Fantasie abzuschwören. Er bedient sich bald der genetisch-kritischen, bald der immanent-kritischen Methode und kann hierbei noch immer Orientierung finden an der Art und Weise, wie Marx seinen Erkenntnisgegenstand fasst und durchdringt. Keinesfalls muss er sich in der Verachtung des kognitiven Vermögens der menschlichen Gattung profilieren; entschieden aber erforscht er die geschichtliche Gewordenheit unseres Erkenntnisapparats und hierfür ist die von Marx entwickelte Vorstellung eines sinnlich-tätigen Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur das nach wie vor gültige, wegweisende Paradigma. Und weiterhin: Bekanntlich ist »Bewusstsein« kein Apriori der Erkenntnis, sondern – in objektiver Hinsicht, wie aufgewiesen – selbst bedingt durch den jeweiligen Stand der gesellschaftlichen Arbeit, Niederschlag generationenübergreifender Praxis. Das ebenfalls von Marx apostrophierte »enorme Bewußtsein« wäre eine leere Hülse, eine schlechte Abstraktion, ließe es sich nicht auch begreifen als das mögliche Resultat jener sinnlichtätigen Praxisauseinandersetzung, als Produkt einer – durch sinnliche Wahrnehmung, lebenspraktische Erfahrung und Tathandlung geprägten – Entwicklung; konkret und auf das Bildungsgeschehen individueller Subjektivität und die Formierung des Selbst-Bewusstseins bezogen: als Produkt eines psychophysischen Prozesses, der sich, leiblich konturiert, am sozio-historischen Ort, in lebenspraktischen Interaktionen abspielt; das subjektive Erleben und Verhalten konstituierend im Sinne der leiblich-affektiven Besetzung der Welt, die ihrer bewussten Erfassung vorausgeht.60
Bei alledem geht es nicht etwa nur um den Aspekt des Eudämonismus innerhalb der Materialismus-Idee, vielmehr rückt die von Schmidt Feuerbach zugeschriebene Einsicht in die »Ambivalenz der Natur im Subjekt« in den Blick: »Die Sinnlichkeit«, zitiert Schmidt Feuerbach, ihn hier im Vorfeld Freuds situierend, »ist die Quelle der Lust, aber sie ist auch die Quelle der Schmerzen, der Leiden, der Krankheit, der besten Gegenmittel gegen die ausgelassene Lust.«61 Schmidt ist klar: Die Erschließung der Erkenntnisproblematik in geschichtsmaterialistischer Perspektive muss die Ebene leiblicher Praxis erreichen, die gegenüber Denkakten widerständig bleibt und nicht ins Erkennen hinein auflösbar ist. Denn in der Leiblichkeit des Menschen finden Differenz und Übereinstimmung mit der Welt ihren Niederschlag, manifestieren sich Glücksverlangen und Leiderfahrung. In diesem Sinn erinnert Schmidt an die eben auch schon von Feuerbach formulierte Einsicht, dass die »Pathologie vor allem […] die Heimat und Quelle des Materialismus« ist,62 um an anderer Stelle dieses spezifische Materialismus-Verständnis noch so zu kommentieren:
»Vielleicht wird von den Materialisten der Mensch als ein hinfälliges, überaus bedingtes Stück der Dingwelt ernster genommen als in den idealistischen Konzeptionen. Eine Hinfälligkeit und Bedürftigkeit, die vom Materialismus aufrichtiger, wohl auch demütiger ausgesprochen wird als in jenen Theorien, die den Menschen zwar als erhabenes Geistwesen bestimmen, sich in der Praxis jedoch nicht selten zur Rechtfertigung geistloser, unterdrückender Zustände hergeben.«63
Keine Frage, ein Materialismus, der von dieser existentiellen, die Frage von Vergänglichkeit und Tod einbeschließenden Dimension keine Notiz nimmt, ist vom Schmidtschen Verständnis, von seiner Durchdringung der Materialismus-Problematik qualitativ deutlich zu unterscheiden. »Wir verstehen einen philosophischen Autor erst dann recht«, vermochte Schmidt seine Zuhörer und Gesprächspartner zu belehren, »wenn wir wissen, gegen wen oder was dieser sich wendet.« Der Leser kann nun in Auseinandersetzung mit den Texten die Probe aufs Exempel machen. Die Herausgeber plädieren dafür: Es gibt allen Grund, in der gegenwärtigen und zukünftigen Debatte um Marx Orientierung an und in den von Alfred Schmidt erarbeiteten Perspektiven zu suchen.64
Zu den Texten von Alfred Schmidt in diesem Band
Die hier vorgelegte Textsammlung dokumentiert wesentliche Etappen der über Jahrzehnte sich erstreckenden Alfred Schmidtschen Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk. Der als eine Art Vorwort zu verstehende Beitrag gibt einen ersten Überblick über die Motive der spezifisch Schmidtschen Marx-Interpretation: Verfasst aus Anlass des 100. Todestages von Marx, kann Schmidt hier eine Art Bilanz ziehen über seine bereits über zweieinhalb Jahrzehnte sich erstreckende Arbeit an den Quellen wie über die Stoßrichtung seiner engagierten Eingriffe in die internationale Marx-Debatte. Ebenfalls die Form eines Überblicks hat der an den Anfang des Hauptteils gerückte Aufriss Thesen zum Begriff der Natur bei Marx. Schmidt gelingt es hier, auf nur knappem Raum die Essentials zusammenzustellen, die aus seiner komplexen, in der Dissertation breit auseinandergelegten Forschung über die Grundlagen des Marxschen Materialismus resultieren. »Die gesellschaftliche Vermittlung der Natur« – heißt es hier programmatisch – »darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Gesellschaft auch natürlich vermittelt ist.«
Der Aufsatz Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie, Schmidts Referat zum Frankfurter Kolloquium 1967 Kritik der Politischen Ökonomie heute. 100 Jahre »Kapital« enthält wichtige Hinweise zur »Methode der Marx-Interpretation« und führt in Rekonstruktion der von Marx vorgenommenen Verhältnisbestimmung von Erkenntnisgegenstand (Nicht-Identität von Erscheinung und Wesen) und Verfahren (hier die besondere Beziehung von »Forschung« und »Darstellung« herausarbeitend) vor Augen, wie die schon von Herbert Marcuse in den dreißiger Jahren formulierte Einsicht umgesetzt werden und weitere Früchte tragen kann: »daß die revolutionäre Kritik der politischen Ökonomie in sich selbst philosophisch fundiert ist, wie andererseits die sie fundierende Philosophie schon die revolutionäre Praxis in sich trägt. Die Theorie ist in sich selbst eine praktische; die Praxis steht nicht nur und erst am Ende, sondern schon am Anfang der Theorie, ohne daß dadurch ein der Theorie fremder und äußerlicher Boden betreten wäre.«65
Der Vortrag zum Wissenschaftsbegriff von Marx in der gegenwärtigen Diskussion aus dem Jahre 1970 vertieft diese Spur und belegt das anhaltende spezifisch Schmidtsche Interesse an erkenntnistheoretischen Fragen, die sich im Horizont eines philosophischen Materialismus stellen und den Antwort Suchenden dazu anhalten, immer wieder aus den Begrenzungen der innermarxistischen Debatten herauszutreten. So geht es Schmidt hier darum, »die eigenartige intermediäre Position zu erfassen, die Marx zwischen Kant und Hegel einnimmt«, um dann auf den späten Fichte zu rekurrieren und dessen bisher unterbelichtete Nähe zum Marxschen Denken über Praxis aufzuweisen. Überhaupt: »Praxis«, so war schon im Anhang zur Dissertation zu lesen, sei der »gerade theoretisch wichtigste Marxsche Begriff. Auf ihn«, das wird von Schmidt nicht nur in dem hier publizierten Vortrag, sondern auch an anderen Stellen mit Nachdruck betont, »ist immer wieder zurückzukommen, will man sich Klarheit darüber verschaffen, was bei Marx Materialismus heißt und mit welchem Recht dieser dialektisch genannt zu werden verdient.«66
Im Aufsatz Herrschaft des Subjekts gibt Schmidt Aufschluss darüber, wie auch Elemente des anti-anthropozentrischen Denkens von Heidegger und Nietzsche in den Horizont philosophischer Marx-Deutung einzubeziehen sind und dabei ein Bewusstsein befördern, »das die Frage gestattet, ob sich Natur in dem Aspekt erschöpft, den sie uns heute, eingespannt in die allerorts herrschenden Verhältnisse, darbietet.«
Das im darauf folgenden Text enthaltene Gespräch zwischen Alfred Schmidt und Bernard Görlich thematisiert sehr grundsätzlich das Verhältnis von Materialismus und Subjektivität. Ausgangspunkt ist die Rezeption Darwins und die Kritik des Sozialdarwinismus durch Marx und Engels. Sodann