»Die völlig durchgeführte Dialektik von Besonderem und Allgemeinem brächte Natur: das Widerspenstige, nicht restlos auf ›Vermittlungen‹ zu Bringende, zum Verschwinden. Indem Marx die – in Nietzsches Sprache – nicht ›festgestellte‹, allgemeine Menschennatur von ihrer vorliegenden Gestalt unterscheidet, gewinnt sein materialistischer Vorbehalt eine politische Note. Die orthodox verfochtene These, alle Kategorien des Materialismus seien zugleich solche der Dialektik, lässt sich wohl – zumindest in dieser Verbindlichkeit – nicht halten. Hier wie anderswo im Marxschen Werk schlägt der Materialismus der Dialektik ein Schnippchen.«47
Das heißt nun aber:
»Marx vertritt letztinstanzlich den Primat der Natur gegenüber Geist und Gesellschaft. […] Bei aller geschichtlich wechselnden, von Marx keineswegs vernachlässigten Formbestimmtheit des Stoffwechsels setzt sich dessen Inhalt immer wieder durch. Der eiserne Zwang zur Produktion und Reproduktion menschlichen Lebens, der die Geschichte definiert, gemahnt kaum zufällig an die sturen Kreisläufe der Natur. Daß der historische Wandel von Subjekt und Objekt auf natürliche Grenze stößt, wird freilich von Marx niemals in apologetischer Absicht vorgetragen. Halten wir fest: Natur ist ein negatives, unaufhebbares Ontologicum. Stets aufs neue erweist sie sich als antidialektisch-statisches Element, das sich jedoch nur innerhalb und vermittels der historischen Dialektik als solches bestimmen läßt.«48
Dabei gilt es, auf das Erkenntnisproblem der Verhältnisbestimmung bezogen, zu beachten:
»Der Widerspruch, dass die Natur dasjenige ist, woran kein menschlicher Maßstab angelegt werden darf und was zugleich nur über unausrottbar anthropomorphe Kategorien angeeignet wird, muss, mit Hegel zu reden, ›ausgehalten‹ werden. […] Alle Erkenntnis übersetzt und interpretiert die Natur, ›vermenschlicht‹ sie. […] Die Natur, wie sie an sich sein mag, und die Natur als Gegenstand der Forschung sind nicht identisch.«49
Im Marxschen Verständnis ist es allein die Naturstoff-vermittelte Arbeit, die einen Zugang zu ihr ermöglicht. Das heißt: Der Weltentwurf des in seiner jeweiligen historischen Epoche sinnlich tätigen Menschen ist durch tätige Sinnlichkeit vermittelt.
»Wie Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff sich zueinander verhalten, läßt sich nicht ein für alle Mal fixieren, sondern bleibt dem konkreten Gang der Geschichte überlassen. Die gesellschaftliche Praxis, ein überindividuelles Subjekt, stiftet jeweils die Einheit der Erkenntnismomente und vermittelt ihren Übergang ineinander. Sie ist das Kriterium der Wahrheit. Erkenntnistheoretischer Realismus und Subjektivismus werden im Arbeitsprozeß miteinander versöhnt.«50
Eben deshalb kommt es erkenntnistheoretisch darauf an, »in den Begriff der bewusstseinsunabhängigen und objektiven Wirklichkeit die menschliche Praxis aufzunehmen, das, was wir die sinnliche Welt nennen.«51
Tatsächlich geht es Schmidt um das Fundament eines nicht reduktionistisch begrenzten und nicht essentialistisch vorentschiedenen Begriffs von Materialität, der belanglos würde, ließe er sich nicht vom – Natürlichkeit und Sozialität vermittelnden – Kriterium der Praxis inwendig bestimmen: ein Begriff der Materialität, der in unterschiedlichen Konstellationen, die Geschichte des Materialismus betreffend, unterschiedliche Konturen gewinnt und je besondere Erkenntnisfunktionen generiert: der bei den Vorsokratikern mit anderen Sinn gefüllt wird als bei Aristoteles, bei Hobbes mit einem anderen Stellenwert versehen wird als bei Spinoza und Goethe,52 in Positionen der Aufklärungsphilosophie einen anderen Bedeutungshorizont bezeichnet als bei den »Philosophen der Leiblichkeit« Schopenhauer, Feuerbach, Nietzsche oder Freud, in der Gegenwart bei Bloch andere Akzentuierungen erfährt als in der authentischen Kritischen Theorie Alfred Schmidts. Dessen Leistung aber ist es, sich darum bemüht zu haben, mit allen genannten Positionen im offenen Dialog zu bleiben und die in diesem Dialog gewonnenen Einsichten mit der Marx-Interpretation zu vermitteln. Eben daraus resultiert der Reichtum an Einsichten und die Breite und Tiefe neuer Assoziationen, die die Marx-Diskussion zu bereichern und – in bestimmten gesellschaftlich brisanten Fragen: hierfür steht die Idee des ökologischen Materialismus – auf ein neues, zumindest so bisher nicht bedachtes Fundament zu stellen vermögen.
Mit den bisher dargestellten Überlegungen ist das Erkenntnisproblem von der Objekt-Seite her in den Blick genommen; noch nicht zureichend erschlossen erscheint dagegen die Ebene der Qualität und Eigendynamik subjektiver Prozesse, die für die Formulierung einer tragfähigen und brauchbaren materialistischen Erkenntnistheorie von ebenso ausschlaggebender Bedeutung ist. Den Zusammenhang beider Erkenntnisperspektiven hat Schmidt bereits in seinem Naturbuch in kritisch-diagnostischer Hinsicht so auf den Begriff gebracht:
»Es gehört wesentlich zu der als organisierter Herrschaft fortschreitenden Zivilisation, daß die zu bloßem Material menschlicher Zwecke herabgewürdigte Natur dadurch sich an den Menschen rächt, daß diese ihre Herrschaft nur mit stets sich mehrender Unterdrückung ihrer eigenen Natur erkaufen können.«53
Aufschlussreich erscheint der Bezug auf Freud in den nun unmittelbar folgenden Sätzen, verrät er doch, wie Schmidt sich in der Frage nach dem Subjekt neu zu orientieren sucht:
»Die Entzweiung von Natur und Mensch in der Arbeit spiegelt in der Unversöhnbarkeit von Lust- und Realitätsprinzip sich wider. Wobei jedoch die Einsicht, ›daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht‹, Freud trotz aller psychologisch begründet Skepsis gegenüber dem Sozialismus in letzter Instanz sowenig wie Marx dazu verhält, der Resignation das Feld zu überlassen. Die geheime Utopie der Psychoanalyse, wie sie etwa in der Schrift ›Die Zukunft einer Illusion‹ sich andeutet, ist im Grunde die Marxsche von ›innen gesehen‹: Es wird entscheidend, ob und inwieweit es gelingt, die Last der den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit den notwendig verbleibenden zu versöhnen und dafür zu entschädigen.«54
Gewiss, auch die »geheime Utopie«, die Schmidt hier aus der Verbindung von Marx und Freud konstruiert, ist eine bestimmte Negation; der Naturbezug in ihr enthält »kein positives metaphysisches Prinzip«.55 Wohl aber drängt er zur Frage der Subjektivität, die Schmidt nun über den Rahmen der Marxschen Theoretik hinauszugehen zwingt.56
Aber auch hinsichtlich dieser neuen Aufgabenstellung galt es zunächst, das Terrain zu bereinigen. So sah sich Schmidt in der Debatte um Voraussetzungen materialistischer Erkenntnistheorie vor die Aufgabe gestellt, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, formelhafte Bescheide, wie sie in Konzepten der kodifizierten weltanschaulich geprägten Widerspiegelungstheorien enthalten sind. Schmidt nimmt hiervon begründet Abstand, um im Gegenzug zwei Aufgabenfelder intensiv ins Visier zu nehmen: Zum einen geht es ihm darum, die von Marx erreichten Positionen mit Denkmotiven gerade auch der idealistischen Philosophie zu konfrontieren, die in der Theoriebewegung zwischen Kant und Hegel – und im Anschluss Fichte – die Frage der Subjektivität ja zu ihrem besonderen Gegenstandsbereich gemacht hatte. Und zum anderen bzw. gleichzeitig zielt der Geschichtsschreiber des philosophischen Materialismus darauf ab, im Anschluss an Darwin, Feuerbach, Positionen des naturwissenschaftlichen Materialismus und der Entdeckung des Leibes (matérialisme médical)57 bis hin zu den subjektzentrierten Kritikern der Bewusstseinsphilosophie – Schopenhauer, Nietzsche und Freud – Bausteine zur Formulierung jener nichtsubjektivistischen Theorie der Subjektivität zusammenzutragen, die zum Paradigma einer materialistischen Konstitutions- und Erkenntnislehre ausgebaut werden sollte.
Die Implikationen dieser Forschungen können hier nicht mehr auseinandergelegt werden; nur auf einen Aspekt ist noch einzugehen, weil er den Horizont in der Frage nach dem Materialistischen der Marxschen Theorie zu erweitern vermag: »Wer zum historischen Materialismus übergeht«, gibt Schmidt zu bedenken,
»ist damit keineswegs der Probleme enthoben, die sich aus der Leiblichkeit des Menschen ergeben. Marxens Akzentuierung von Gesellschaft