Marxens Ausgangsposition betreffend, müsse – mit Herbert Marcuse gesprochen – »gesehen und verstanden werden: daß Ökonomie und Politik auf dem Grunde einer ganz bestimmten philosophischen Interpretation des menschlichen Wesens und seiner geschichtlichen Verwirklichung zur ökonomisch-politischen Basis der Theorie der Revolution geworden sind.«5 Zweitens: Der Materialismus-Forscher Schmidt erteilt dem in der Frage nach dem Verhältnis von Marx zur Philosophie weiterhin Orientierung Suchenden den folgenden Rat:
»Das Wesen des Marxschen Materialismus wird so lange verfehlt, als man ihn bloß als innerphilosophische, gar weltanschauliche Alternative zu einem wie immer gearteten Idealismus interpretiert. Er ist aber ebenso sehr die – freilich selbst noch philosophisch motivierte – Kritik und Aufhebung der Philosophie als Philosophie. Gesamtgesellschaftlich-historisch orientiert, vermag er sich insofern über die Philosophie zu erheben, als er die innerphilosophischen Fragen, ohne deshalb ihren Sachgehalt zu leugnen, als ein Abgeleitetes und Vermitteltes durchschaut. So büßt auch, was Engels in seiner Feuerbachschrift als die ›höchste Frage der gesamten Philosophie‹ bezeichnet, die nämlich ›nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur‹, sehr an Gewicht ein, hat man sich einmal verdeutlicht, daß Begriffe wie Denken und Sein, Geist und Natur ebenso wie die naturwissenschaftlichen Erklärungsweisen der Praxis entsprungene Produkte sind, mit deren Hilfe die Menschen geschichtlich begrenzte, keine ewigen Probleme zu lösen suchen.«6
Drittens: Es ist Schmidts Anliegen zu zeigen, dass gerade das Studium der Geschichte des Materialismus auch darüber belehrt, dass Brechts Wendung vom Philosophieren »um zu leben« keine Absage an Philosophie bedeutet; mit ihr wohl aber ein anderes Verhältnis der Philosophie zur Wirklichkeit zur Debatte gestellt wird. Hier ist die Stelle, an der der Materialismus-Forscher Schmidt die oben angekündigte Prämisse ins Spiel zu bringen weiß, die Brechts Fingerzeig ein relatives Recht belässt: »Der Begriff einer ›materialistischen Philosophie‹ ist in sich paradox«, räumt Schmidt ein; denn er verweist auf »die Schwierigkeit des Materialismus insgesamt: daß er etwas thematisiert, was sich systematischem Zugriff verweigert, ins Philosophische erhebt, was der Philosophie spottet.«7 Gelänge es aber, ein Philosophieren »um zu leben« im Sinne der lebenspraktisch sich zur Geltung bringenden Einspruchshaltung gegen gesellschaftliche Zumutungen und gegen einen bornierten Zeitgeist in Gang zu bringen, dann kann Philosophieren selbst zur praktisch-politischen Wirkung gelangen, ja, von Konflikten der Praxis inwendig bewegt, Praxis mitgestalten. Schmidts hierfür angeführtes Beispiel berührt Fragen einer materialistisch gewendeten, lebenspraktisch bedeutsam werdenden Anthropologie:
»Daß der Mensch von den materialistischen Aufklärern als rein physisches Wesen betrachtet wird, daß sie lehren, der moralische Mensch sei der physische, nur unter einem besonderen Aspekt gesehen, hat unmittelbar politische Auswirkungen. Wenn das irdische Dasein, diese endliche Existenz, wirklich ein Letztes ist, dann muß sich für die Menschen die Notwendigkeit ergeben, den herrschenden Zustand zu beseitigen, der sie um ihr Glück betrügt. Glück heißt hier nicht bloße Innerlichkeit, sondern sinnlich-materielles Glück.«8
Alfred Schmidt
und die Authentizität Kritischer Theorie
Die hier von Schmidt zum Ausdruck gebrachte Identifikation mit materialistischer Aufklärung verweist auf das originäre sozialphilosophische Erfahrungsumfeld, in dem er sich bewegte, von dem sein Selbstverständnis inwendig geprägt wurde: Alfred Schmidt ist authentischer Repräsentant jener Kritischen Theorie, die in den frühen dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts entstand und ihre Konturen gewann einerseits als ein Forschungsprojekt zur Aufklärung des faschistischen Traumas und andererseits als das Modell eines interdisziplinären Materialismus, das philosophische Reflexion und einzelwissenschaftliche Sozial- und Kulturforschung in Beziehung zu setzen suchte, um so den Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft auf die Spur zu kommen. In seinem ersten hier abgedruckten Beitrag, den Überlegungen anlässlich des 100. Todestages von Karl Marx, notiert Alfred Schmidt: »Die vom Kreis um Horkheimer während der dreißiger Jahre in der Zeitschrift für Sozialforschung entworfene Kritische Theorie gehört zu den fruchtbarsten Versuchen, Marxsche Kategorien in die Problematik unseres Jahrhunderts einzubringen.«9 Vor allem die Schriften und das Lehrangebot des 1949 an die Universität Frankfurt zurückgekehrten Max Horkheimer zogen den jungen Schmidt in Bann und es dauerte nicht lange, bis aus dem Schüler ein produktiver Mitarbeiter der Repräsentanten der Gründergeneration der Frankfurter Schule wurde. Wie aus einem Ende 1956 verfassten Empfehlungsschreiben Horkheimers an die Studienstiftung des Deutschen Volkes hervorgeht, arbeitete Schmidt bereits Mitte der fünfziger Jahre im Rahmen der von ihm angefertigten »Seminararbeiten […] über Fichtes Wissenschaftslehre, über den Ideologiebegriff des jungen Marx«10 und setzte sich – Horkheimer attestiert seinem Schüler »Leidenschaftlichkeit für Wissen und Wahrheit«11 – mit Grundintentionen materialistischer Philosophie auseinander, hier schon auf das Problem der Konstellationen von Natur und Geschichte stoßend. Schon in den sechziger und frühen siebziger Jahren entstanden aus Schmidts Feder einführende Aufsätze zu den Denkmotiven von Horkheimer und Adorno und profunde Kommentare zum Projekt der Zeitschrift für Sozialforschung 12; Schmidt übersetzte zudem Horkheimers Eclipse of Reason (1947)13, dann auch zentrale Schriften von Herbert Marcuse; mit ihm gemeinsam verfasste er die 1973 erschienene Studie zur Existenzialistischen Marx-Interpretation.14 Und nicht nur in seinen universitären Anfangszeiten erarbeitete Schmidt luzide Darstellungen zu Geschichte und Bedeutung Kritischer Theorie; lebenslang war er daran interessiert, zur Verdeutlichung und Verbreitung der Positionen seiner früheren Lehrer beizutragen. So erschienen etwa im Jahre 2002 – Schmidt war längst Emeritus – sowohl eine wichtige Studie zu Adornos Spätwerk15 als auch ein achtzig Seiten umfassender Aufsatz, in dem er »Herbert Marcuses politische Dechiffrierung der Psychoanalyse« zum Thema machte.16 Kein Zweifel: Willem van Reijen hat recht: »Von den Philosophen der zweiten Generation«, stellt der holländische Sozialphilosoph in seiner Einführung in die Kritische Theorie fest, »hat Alfred Schmidt als Herausgeber und Übersetzer von Aufsatzsammlungen und Büchern sicher am meisten dazu beigetragen, daß die frühe kritische Theorie einen bleibenden Einfluß auf Philosophie, Sozialwissenschaften und insbesondere auf die Weiterentwicklung der kritischen Theorie behalten hat.«17
Tatsächlich war Schmidt, wie er in seinem Anfang der siebziger Jahre verfassten Lebenslauf vermerkte, »bestrebt, den Frankfurter Ansatz einer kritischen Theorie der Gesellschaft angesichts heutiger Probleme sowie des internationalen Standes der Diskussion neu zu durchdenken und weiterzuentwickeln.« Sein besonderes Augenmerk richtete er dabei – so ist im zitierten Kontext zu lesen – auf das ihn »seit seiner Dissertation bewegende Gebiet einer – kritizistisch begründeten, die tragfähigen Resultate von Kant bis Hegel bewahrenden – materialistischen Erkenntnistheorie, die als Konstitutionslehre zugleich ein geschichtsphilosophisches und sittliches Vernunftinteresse verfolgt.«18 Ein ambitioniertes philosophisches Programm, das bereits in der Doktorarbeit Konturen gewann, denn Schmidts Dissertationsschrift Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx ist weit mehr »als ein Stück Marx-Philologie«, wie dies Horkheimer und Adorno in ihrer Vorbemerkung19 nahelegten. Vielmehr avancierte gerade diese Abhandlung, die mittlerweile in 18 Sprachen übersetzt vorliegt und jüngst in der fünften Auflage erschien, zu einem der wichtigsten Beiträge des sogenannten »westlichen Marxismus«, zum Modell einer unorthodoxen, philosophisch ambitionierten Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk.
Die erkenntnisleitende Studie:
»Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx«
Es ist aufschlussreich, sich zu vergegenwärtigen, in welcher Situation sich Schmidt befand, als er sich seinem Thema zuwandte. In den späten 1950er Jahren galt Marx – zumal in Westdeutschland – als weitgehend tabuisiert. Die politische Brisanz, die die öffentliche Auseinandersetzung mit Marx und dem Marxismus in jenen Jahren der Ost-West-Spannung und des Kalten Krieges dennoch hatte, kennzeichnet Schmidt nicht ohne Ironie wie folgt:
»Ich erinnere mich, daß während der 1950er Jahre noch, als ich in Frankfurt am Main studierte, Marx nur selten und hinter vorgehaltener Hand genannt wurde. Das war