Durch besagtes Fenster fiel der Blick auf den mächtigen Wohnturm des Hauses zum Stein (nach dem Erbauer Eberhard von Stein), das vor fünfundzwanzig Jahren noch teilweise von Studenten bewohnt wurde, als die Freundin sich hier niederließ. Den Umbau dieses hohen Bauwerks, angeblich mit romanischen Säulen des dreizehnten Jahrhunderts im Innern bestückt, hatte sie miterlebt. Interessiert beobachtete sie, wie die gesamte Steinverkleidung mit Lkws direkt aus Italien angeliefert und nachträglich vor die Originalfassade gesetzt wurde, was die jetzige Tiefe der Außenmauern von zirka einem Meter erklärte. Unten hatte zeitweise das stadthistorische Museum sein Domizil gefunden, war aber vor kurzem umgesiedelt worden zur Zitadelle, mit Eingang am Drususstein. Vor der Sanierung des angeblich ältesten Hauses von Mainz gab es dort ein Satteldach:
»… auf dessen Dachfirst sich Jahr für Jahr die Tauben, Tag für Tag, Seite an Seite aufreihten, wie Perlen an einer Kette oder stolze Apachen mit Pferden auf einem Berggipfel, kurz vor ihrem Angriff in klassischen Western!« (Originalton Ilse), welches später einem Flachdach weichen musste.
Zweifellos angenehm kühl im Sommer und immer wieder ein erhebender Anblick, dieses Domizil, auch wenn Studis sich diese Wohnungen heute kaum mehr leisten konnten. Jetzt, wo die Sonne auf die erdfarbenen Steine der dickwandigen Fassade schien und eine wohlgenährte, grau getigerte Katze aus den breiten Fensteröffnungen sehnsüchtig vorbei fliegenden Vögeln hinterher blickte, erfüllte wohl jeden Betrachter das erhebende Gefühl, in der Toskana zu sein oder in Südfrankreich.
»Komm, wir tragen alles ins Wohnzimmer, dort sind wir mitten im Trubel und doch unter uns.«
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Nach ausgiebigem Beschnüffeln balgten Troll und Diva um einen arg zerfetzten, gelben Tennisball, der noch von Ilses Sohn Henrik stammte. Dieser lebte jetzt in den USA und war als Anästhesist in einer Bostoner Klinik tätig. Ilse vermisste ihn sehr, klagte jedoch nie darüber. Beide pflegten eine rege Korrespondenz über ausführliche Mails und über Skype. Früher, als routinierte Schreibmaschinennutzerin, war Ilse anfangs nicht sonderlich angetan vom Laptop, das ihr Sohn ihr überlassen hatte vor seinem Abflug. Doch heute konnte sie sich das Leben kaum mehr vorstellen ohne das digitale Teufelsteil und Gottesgeschenk in einem. Mona kannte Henrik nicht, nur durch Ilses schwärmerische Erzählungen wusste sie einige Interna und wäre ihm gerne mal persönlich begegnet. Ilses Ehemann hatte früh »… bei einem grässlichen Unfall im Hamburger Elbtunnel sein junges Leben ausgehaucht«, und sie musste Henrik alleine großziehen.
»Alleinerziehend, vor dreißig Jahren war das eher die Ausnahme, nicht normal, und sehr schwer ohne die vielen staatlichen Hilfen, die es heute gibt. Die Zeiten ändern sich eben zum Glück. Heutzutage sind diese taffen Mütter schon fast die Regel. Mein Sohn war erst fünf und mir blieb nichts übrig, als die kleine Witwenrente durch meinen Verdienst aufzustocken für einen angemessenen Lebensunterhalt«, hatte Ilse der jungen Frau damals nicht ohne Stolz anvertraut, als sie sich bei einem Vortrag der Stiftung Lesen in der Staatskanzlei kennenlernten. Und dass ihr Sohn später sein Medizinstudium in Heidelberg mit ›Magna Cum Laude‹, abschließen konnte.
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Jede zwei große Stücke von der Erdbeertorte mit viel Sahne. Mehr ging beim besten Willen nicht.
»Zum Kaffee passt jetzt gut eine Zigarette«, meinte Ilse. Sie rauchte nur ganz selten eine mit, hatte aber nichts gegen Raucher in ihrer Wohnung, wenn das Fenster geöffnet war. Der Rauch stieg in graublauen Kringeln in die Höhe und verflüchtigte sich durch das zweiflügelige Sprossenfenster über die Fußgängerzone.
»Also, was gibt’s bei dir Spannendes zu berichten?« Endlich konnte Mona loslegen mit der Schilderung der tragischen Kapriolen, die der nächtliche Samstag ihr beschert hatte. Ilse war am Ende sichtlich geschockt und schaute sie ungläubig an.
»Ein Mord auf unserer Zitadelle, wo tagtäglich so viele Kinder spielen und eigentlich immer Leute mit und ohne Hunde spazieren gehen. Ich kann’s nicht glauben! Diese Dreistigkeit des Mörders. Er musste doch damit rechnen, bei seiner Tat beobachtet zu werden. Aber warum eine Politesse? Dass der Eine oder Andere mal Wut auf die Damen hat, kann ich ja nachvollziehen, aber gleich jemandem das Lebenslicht für immer auslöschen.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Das Böse lauert überall, auch wenn man sich in dieser beschaulichen Stadt in scheinbarer Sicherheit wiegt.«
Ilses poetische Ader zeigte sich auch hier wieder. Jemandem das Lebenslicht auslöschen! Was hätte dieser säuerliche Fastkommissar wohl gedacht, wenn Mona sich so ausgedrückt hätte bei ihrer Aussage. Wahrscheinlich hätte er sie blitzschnell in sein Schubladensystem sortiert unter LÜK oder TÜK, abgelegt als leicht- oder total übergeschnappte Künstlerin. Aber was juckte sie das, sie hatte eh nichts mehr am Hut mit dieser Mordsache.
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»Diva und ich werden den Ort in Zukunft meiden. Vielleicht sollten wir auch so selbstverständlich agieren wie ein ziemlich dreister Bewohner aus der Nachbarschaft. Ein gepflegter Herr mittleren Alters im Boss-Anzug, der jeden Tag frühmorgens durch die menschenleere Augustinerstraße spaziert mit einer weißgrau, gelockten Pudelhündin, die ganz selbstverständlich und stets unter seiner Aufsicht, munter ihr Geschäft ebendort an einer wahllosen Stelle erledigt. Ganz Ehrenmann, kratzt der Herr das Häuflein anschließend penibel mittels Küchenrolle vom Kopfsteinpflaster und entsorgt es in die öffentliche Abfallbox.«
»Ist nicht möglich, oder?«
»Ich habe die beiden selber einige Male perplex beobachtet. In der besten und einzigen Metzgerei am Platze wurde sich auch bereits darüber aufgeregt.«
»Was suchst DU denn dort, du isst doch kein Fleisch?«
»Schon, aber mein Hundefräulein! Wenn ich dort die heiß geliebten Frankfurter besorge, gibt es den aktuellsten Altstadtklatsch gratis obendrauf, meist noch pikant gewürzt mit persönlichen Spekulationen diverser Tratschtanten.«
»Gratis gab es in meiner Jugend immer die obligatorische, daumendicke Scheibe Fleischwurst mit scharfem Seiteneinschnitt, zum leichteren Abpellen der Haut. Aber vielleicht ist das inzwischen démodé?« »Keine Ahnung, aber umsonst gibt es fast nirgends mehr etwas, vor allem nicht bei echten Geschäftsleuten. Nur mit knallhartem Geschäftssinn kommt man wirklich zu etwas. Weißt du, dass es früher in der Altstadt fünf Metzgereien gab? Drei allein in der Augustinerstraße, eine in der Holzstraße und eine in der Kapuzinerstraße, wovon nur eine übrig blieb. Tja, the winner takes it all! Gute Waren zu saftigen Schweinebackenpreisen, gepaart mit fleißigem Engagement, innovativen Ideen und dem Teuro, sind die Lizenz für eine Goldgrube. Im Besonderen für Metzgereien!«
»Mit der Währungsreform haben alle ihre Geschäfte gemacht. Ganz krass fällt es mir auch immer in der Gastronomie auf. Ich glaube, vor dem Euro, hätte ich mir nie eine Tasse Milchkaffee für sechs Mark neunzig geleistet und ein Päckchen Zigaretten oder eine läppische Geburtstagskarte für zehn Deutsche Mark oder mehr gekauft. Aber du wolltest mir auch etwas erzählen?«
»So dramatisch wie deine Erlebnisse zu nachtschlafender Zeit, wenn anständige Bürgerinnen vom Sandmännchen geküsst, bereits im Bette schlummern, ist’s natürlich nicht, aber …«
*
Ilse berichtete Mona mit leicht geröteten Wangen von einem Brief, der freitags irrtümlicherweise in ihrem Briefkasten landete und worauf in alter Sütterlinschrift, die Adresse mit Füllertinte vermerkt war.
›An Herrn Richard Eugen Lieser, Augustinerstraße 8, 6500 Mainz‹ – abgeschickt von einer Witwe Elisabeth Erasme, geborene Herber aus 25746 Heide an der Nordsee. Ilse vermutete eine hochbetagte Adressantin wegen der akkuraten, wie gestochen wirkende Handschrift in altdeutscher Schreibweise und der nicht mehr existenten Postleitzahl. Sie nahm an, dass der Brief vielleicht bedeutsam sein könnte und beim Nachschlagen im Telefonbuch hatte sie diesen Mann tatsächlich ausfindig machen können.
»Aber Leute, die Lieser heißen, gibt es doch bestimmt einige?«, fragte Mona.
»Ja, aber nur einen Richard