Schlacht um Sina. Matthias Falke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Falke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783957770295
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dass sie auch mit Annihilationswaffen bestückt waren. Eine Staffel nach der anderen röhrte im Tiefflug über sie hinweg, zog dann hoch, schaltete auf Kernantrieb um und bohrte sich in den weichen Wolkensaum, an dessen unterem Rand mit fahlem, aschigem Glosen der Morgen zu dämmern begann. Längst hätten sie sich zurückziehen müssen. Aber sie hingen gebannt in der Deckung der Mauer, die unter dem anhaltenden Motorendonner schwankte, und zählten die Schiffe und Geschwader. Eine einzige dieser Maschinen, konnte eine Metropole in Schutt und Asche legen, einen Konvoi vernichten oder einen Planetoiden zu Staub mahlen. Jede der Staffeln, die stundenlang über sie hinwegjagten, konnte eine Welt auslöschen, eine Erde sterilisieren. Die Streitmacht, die sich da auf den Weg machte, war die Große Sinesische Flotte. Keine Macht im bekannten Universum konnte sich ihrer Feuerkraft entgegenstellen. Ein einziges Mal in der Geschichte der interstellaren Auseinandersetzungen, hatte eine Armee der Union es gewagt, mit ihr anzubinden. Dieser Konflikt war in der Schlacht von Persephone kulminiert. Aber seither waren Jahrzehnte vergangen. Sina hatte nicht nur gleichgezogen, sondern sich auch mit der Annihilationstechnologie einen Vorteil verschafft, dem die Menschheit nichts entgegenzusetzen hatte. Doch allein durch ihre schiere Quantität konnte diese Armada jeden Widerstand erdrücken. Es war die größte interstellare Streitmacht, die die Galaxis je gesehen hatte; keine bekannte Macht im Universum war ihr gewachsen.

      Obwohl sie die Sonne nicht aufgehen sahen, die hinter wächsernen Wolkenschichten verborgen blieb, erlebten sie den Tagesanbruch im Freien. Das kalte farblose Licht von Sina lag auf der Landschaft aus Trümmern und Ruinen, während am Raumhafen der Aufbruch der gewaltigen Flotte andauerte. Schließlich zogen sie sich in das Bunkersystem zurück, um dort den Tag zu verbringen und sich auszuruhen. In einem unterirdischen Stollen, halb in einer Pfütze aus Plasmarückständen und Schmieröl sitzend, an die nasse Wand gelehnt, lauschten sie dem fernen Grollen, dessen Ausdauer die Stunden zermalmte wie die Faust eines Riesen einen zerbröselnden Stein. Von Tloxi umgeben, die die Ausgänge sicherten und ansonsten in einer Art von unansprechbarem Stand By verharrten, hockten sie da. Jill hatte sich an Taylors rechte Seite geschmiegt. Mit mechanischen Bewegungen stopften sie nach nichts schmeckendes Granulat in den Mund und starrten über ihre Fußspitzen hinweg auf den feuchten Boden, auf dem braunschwarze Algen siedelten.

      »Ist das jetzt ein gutes Zeichen für uns?«, fragte Lambert irgendwann.

      Nichts hätte die verzweifelte Absurdität ihrer Lage besser zum Ausdruck bringen können. Taylor antwortete nicht. Obwohl sie mehr als vierzehn Stunden unterwegs gewesen waren, vom Abend bis in den fahlen sinesischen Vormittag hinein, fanden sie keinen Schlaf. Wie ausrangierte Puppen, die man achtlos fortgeworfen hatte und die mit verdrehten Gliedern in der Ecke lagen, lehnten sie aneinander, kauten, schwiegen und sahen vor sich hin. In regelmäßigen Abständen zog Jill die Nase hoch.

      Die Nacht reichte von drei bis etwas über acht Uhr. Dort herrschte Finsternis; eine Art von Finsternis, an die zu gewöhnen ihm bisher nicht gelungen war. Auf dem Kugelkompass erstreckte sie sich von vierzig bis hundertdreißig Grad. Ein riesiger Vorhang aus Dunkelheit und Nichts. Er achtete darauf, ihn im Rücken zu haben, wobei auch das die beklemmende Wirkung nicht linderte. Manchmal stahlen sich Bänke und feine Filamente vor und ragten seitlich ins Blickfeld, selbst wenn er dieses penibel auf zwölf Uhr ausgerichtet hatte. Was war unangenehmer: dem Grauen ins Gesicht zu sehen – oder eine Entität, über deren Qualität man bislang nichts Verlässliches herausgefunden hatte, in seinem Rücken zu wissen?

      Commodore Wiszewsky zog es vor, ihr den Rücken zuzuwenden. Das war eine Geste der Nichtachtung, die man naiv nennen konnte. Was ich nicht sehe, existiert auch nicht. Aber er verfügte über einen ausreichenden Vorrat sonstiger Sorgen, sodass wenigstens die undurchdringbare Materie seiner Aufmerksamkeit entzogen bleiben durfte.

      Die MARQUIS DE LAPLACE dümpelte in den Ausläufern der Dunkelwolke. Das lichtjahrweite Vorkommen der unbekannten und auf hartnäckige Weise unerklärlichen Substanz hatte keine scharf umrissenen Grenzen. Es begann und endete nicht abrupt, sondern verlief über Milliarden Kilometer. Hier bildete es ein Halo, das peu a peu alles Licht verschluckte, Energie absorbierte, ohne sie in anderer Form wieder abzugeben, wodurch sie dem Hauptsatz der Thermodynamik widersprach, und sogar Warpsignaturen verschlang. Die Dunkle Materie, die keine Masse aufwies, aber ein schwaches Äquivalent von Gravitation erzeugte, bildete sich in riesigen Kissen, Flocken, Streifen und Wolken entlang der Bruchstellen der Raumzeitgeometrie. Hier im Kleinen Korridor, wo die Lokale Gruppe in einem jahrmillionenlangen Prozess auseinanderdriftete wie ein Kontinent entlang eines großen Grabenbruchs, warf der überdehnte Raum unermessliche Mengen der rätselhaften Substanz aus. Ihr Volumen musste nach Millionen Kubiklichtjahren gemessen werden. Ihre Gravitationswirkung, die die Experten von der Planetarischen Abteilung mittlerweile exakt vermessen hatten, entsprach der Masse einiger Dutzend Milchstraßen. Die scheinbare Masse der Lokalen Gruppe, soweit sie aus diesem Gravitationseffekt resultierte, hatte sich durch die Entdeckung allein dieser Dunkelwolke mehr als verdoppelt. Dadurch hatte die galaktische Drift einer radikalen Neuberechnung zugeführt werden müssen. Und Tiefenscannings, die man mit dem Deepfield durchgeführt hatte, hatten ergeben, dass außerhalb der Lokalen Gruppe, im großen Korridor und in anderen Richtungen, weitere Wolken schwebten, deren Gravitationsäquivalent sich auf viele tausend Milchstraßen summierte.

      Wiszewsky war diese Substanz unsympathisch. Materie musste eine Masse haben, oder sie hatte überhaupt nicht zu sein. Der seltsame Zwischen- und Zwitterzustand der Dunklen Materie verstimmte ihn. Er forderte seinem Schulwissen eine Revision ab, zu der er sich nicht mehr bereitfand, auch wenn es nach irdischer Zeit schon über einhundert Jahre alt war. Stattdessen zog er es vor, der Dunkelwolke den Rücken zuzukehren. Er hatte die MARQUIS DE LAPLACE eben so weit in das wabernde Nichts einfliegen lassen, dass sie für einen außenstehenden Beobachter verborgen sein musste und dass auch die Emissionen, die der Betrieb des Schiffes unweigerlich mit sich brachte, von der Wolke absorbiert wurden. Der südliche Horizont, bezogen auf die Schiffsachse, war ganz von dem treibenden Schwarz bestimmt. Nur nach vorne, der Blickrichtung der Schnauze folgend, hatte man freie Sicht, die geringfügig verschleiert, aber immer noch eindrucksvoll genug war.

      Abends, wenn die administrativen Routinen ihn in die immer deprimierendere Freizeit entließen, pflegte der Commodore sich in den Ausguck zurückzuziehen, eine 360°-Panorama-Kugel, die sich zwei Decks über seiner privaten Suite befand. Der gravimetrische Sessel war arretiert und auf die Längsachse der MARQUIS DE LAPLACE ausgerichtet. Hier sitzend, konnte Wiszewsky sich entspannen. Zur Linken sah er, von grauen Schleiern etwas getrübt, die Milchstraße und die anderen Hauptgalaxien der Lokalen Gruppe. Zur Rechten wellten sich die orangeroten und schwefelfarbenen protostellaren Nebel der Eschata-Region in der Protogalaxie M42. Und geradeaus, über den Antennenwald des Schiffsbugs hinweg und dem leicht einwärts gekrümmten Verlauf des Kleinen Korridors folgend, konnte er sogar das überwältigende Galaxienfeld der Großen Mauer ausmachen. Fern, schwach leuchtend, ein Vorhang aus grobkörnigem, purpurfarbenem Licht. Entfernt vergleichbar dem Anblick der Milchstraße am Erdenhimmel, wenn auch tausendmal größer und zehntausendmal so weit entfernt. Denn jeder der rötlich im Wasserstoffspektrum irisierenden Lichtpunkte war eine eigene Milchstraße.

      Er kam hierher, um nachzudenken. Aber auch, um nicht nachdenken zu müssen. Es war eher ein ergebnisloses Grübeln und Sinnen, ein Brüten und Dahindämmern, dessen Gegenstand kaum zu formulieren und auszusprechen gewesen wäre. Der erschöpfte und illusionslose Zustand, dem er sich hier oben oft für ganze Nächte überließ, glich eher dem ziellosen und mahlenden Kreislauf der Schlaflosigkeit, der manischen Selbsttätigkeit der immergleichen Ängste, Befürchtungen und traumatischen Überlegungen, als einem bewussten und rationalen Nachdenken. Und dennoch suchte er den meditativen, manchmal allerdings auch albtraumhaften Zustand immer wieder auf. Denn wirklich zu bedenken, bei hellem Tageslicht besehen, gab es im Grunde wenig. Anfangs hatte er noch die Tage gezählt, seit die Crew der ENTHYMESIS unter Umständen verschollen war, die noch immer ungeklärt waren und denen etwas Mysteriöses anhaftete. Dann waren es Wochen gewesen, schließlich Monate. Er wusste nicht mehr, wie viel Zeit verstrichen war, seit der Explorer selbststeuernd ins Große Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE eingeflogen war, von einer Sonde heimbeordert, von der Automatik geführt, mit menschenleerer Brücke. Seither fehlte von Norton und den anderen jede Spur. Das Geisterschiff, dessen Auftauchen in dieser Öde ein Affront gegen jede vernünftige Erwartbarkeit war, hatte sie in den Warpraum verschleppt. Über das Warum