Schlacht um Sina. Matthias Falke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Falke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783957770295
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auf der Stelle schwebende Wespe, hielt die Sonde ihre Position so dicht vor unserer Schnauze, dass wir sie mit einer Handfeuerwaffe hätten treffen können. Sie schien mich zu fixieren, nicht nur unser Schiff, die ENTHYMESIS, sondern mich persönlich, General Frank Norton, den Oberbefehlshaber der größten interstellaren Streitmacht, die die Unierte Menschheit jemals ausgesandt hatte. Und ich erwiderte diese Fixierung. Es war nur ein Automat, aber er starrte mich neugierig, abwartend, drohend und herablassend an. Unsere Blicke krallten sich ineinander, sie verzahnten sich wie Stahl, der sich bei einer tödlichen Kollision kreischend ineinanderfrißt. Es war ein Kräftemessen, und diese Begegnung entwickelte einen fürchterlichen Sog, dem ich mich nicht mehr zu entziehen vermochte. Jennifers spitzer Schrei erlöste mich daraus.

      »Sie fährt den Warpgenerator hoch!«

      »Feuer«, stöhnte ich.

      Es war, als ließe eine riesige Pranke mich los – und als spüre ich erst jetzt, mit welcher Gewalt sie mich gepackt gehabt hatte.

      Jennifer knallte die flache Hand auf die Konsole. Die Omega-Geschütze in den vorderen Torpedoschächten gaben zwei gedeckte Salven ab. Die Sonde zersprang in einem leuchtenden Rauchwolke, die gemächlich in der Schwerelosigkeit auseinanderrollte. Eine blaue Entladung prickelte über die Außenhaut der ENTHYMESIS, als die starken Scan- und Störfelder, die die Sonde auf uns geschaltet hatte, erloschen. Einige größere Bruchstücke verloren sich im Raum. Ich glaubte die KI-Einheit zu erkennen, einen kopfgroßen Kasten, der mit Sandwich-Platinen vollgestopft war und aus dem verschmorte Kabel heraushingen. Er schoss wenige Meter über uns hinweg und verschwand dann für immer in der Dunkelheit.

      Kapitel 2. Die Verlassenen

      »Sei bloß vorsichtig! Wenn sie uns entdecken, ist alles aus.« Jill drückte sich in eine Nische, die sich im zerborstenen Quarzbeton gebildet hatte. Ihr Atem ging stoßweise. Im schiefrigen Licht, das den Stollen erfüllte wie stehendes Wasser, war die zitternde Fahne kondensierender Luft das einzige was von ihr zu sehen war.

      »Ich pass’ schon auf«, gab Taylor mit gutmütigem Brummen zurück.

      Er stützte die Brust an den Wall aus zerbröselndem Zement und schob sich millimeterweise über die Kante. Dabei vergewisserte er sich, dass die Polarisierung der Objektive auf einhundert Prozent geschaltet war. Dann setzte er das Scheren-HoloSkop an und spähte in die rußige Nacht. »Irgendwas geht vor«, flüsterte er. »Der ganze Horizont scheint zu kochen.«

      Lamberts blauer Anzug war ganz in die Kuhle der zertrümmerten Bewehrung eingeschmolzen. Die enganliegende Haube verdeckte ihr Haar. Ihre Hände und Füße steckten in schwarzen Schuhen und Handschuhen aus sensoriellem Tloxi-Leder. Ängstlich beobachtete sie, wie Taylor über die Kante aus zerschossenem Obsidianquarz und die herausstehenden Stahlstifte lugte. Sie war nur ein hechelnder, von Angst durchtobter Brustkorb, der sich im tiefen Schatten der schmalen Nische hob und senkte.

      »Was siehst du?«, zischte sie, als Taylor den virtuellen Fokus betätigte, aber weiterhin schwieg.

      Er antwortete nicht. Die Servos in seinem linken Arm surrten und die Relais in seiner Schulter klickten, als er das HoloSkop nachführte und systematisch den nördlichen Horizont abtastete. »Irgendetwas ist da los«, sagte er nach einer Weile gedämpft. »Aktivitäten.«

      Er schaltete das hochauflösende Nachtsichtgerät ab, wandte sich um und ließ sich mit dem Rücken die nackte Steinwand heruntergleiten. Dann saß er neben Jill und streckte die rechte Hand nach ihr aus. Er wusste, dass das Tloxi-Implantat sie immer noch ein wenig gruselte, und achtete daher darauf, ihr stets die Rechte zuzuwenden, die intakte und organische Körperhälfte. Er selbst hatte sich an die sensorielle, durch mehrere KI-Entitäten gestützte Prothese längst gewöhnt. Vom ersten Augenblick an, als er aus der Narkose erwacht war, hatte er sich ihrer wie einer gewachsenen Extremität bedienen können. Kein Einlernen, keine zeitraubende Reha, keine Phantomschmerzen oder das unangenehme Gefühl, das ihn bei dem ersten Ersatzarm immer gestört hatte, dass das ehemalige Glied irgendwie auch noch vorhanden war und der Wahrnehmung des neuen in die Quere kam. Von all dem konnte diesmal nicht die Rede sein. Die Tloxi-Ingenieure hatten ganze Arbeit geleistet. Kraft und Feingefühl, Tastsinn und Körperbild waren vom ersten Moment an vollkommen natürlich gewesen. Immer öfter vergaß er, dass er überhaupt eine Prothese trug, und er hätte es auch längst vollständig vergessen, wenn Lambert nicht mit einer Miene unterdrückten Angewidertseins seiner linken Seite ausgewichen und stets seine Rechte gesucht hätte.

      Das war umso erstaunlicher, als sie ihn schon als Prothesenträger kennengelernt hatte. Sie hatte ihn nie anders erlebt. Als sie sich auf der MARQUIS DE LAPLACE näher kamen, in WO Reynolds’ Sondenbauprogramm und bei Taylors Einführung in der Crew der ENTHYMESIS, hatte er seinen natürlichen linken Arm längst eingebüßt. Das hatte Lambert nie gestört. Vielleicht hatte das mechanische Surren der integrierten gravimetrischen Kupplungen und die manchmal noch etwas unbeholfenen Bewegungen sie sogar auf den jungen Corporal aufmerksam gemacht, der im Lauf der nächsten Jahre zu Reynolds’ Nachfolger als WO in General Nortons Team aufstieg. Mit der puren Tatsache, dass sein dreißigjähriger, zierlicher und doch kraftvoller Körper einen Defekt aufwies, konnte es also nichts zu tun haben. Taylor vermutete, dass Jills Vorbehalte gegen die Tloxi und die sonderbar kalte und anonyme Perfektion ihrer Technik hereinspielten. Auch im tagtäglichen Umgang mit dem höflichen, besorgten, aufmerksamen und aufopferungsvollen Volk konnte Lambert eine letzte Distanz und Reserviertheit nie überwinden. Sie störte sich an dem unpersönlichen Stil des Androiden-Kollektivs, und gerade die lückenlose Geschlossenheit seiner Organisation schien sie abzustoßen. Taylor konnte nur hoffen, dass zumindest der Teil dieser Abneigung, der sich auf seine linke Leibeshälfte, genauer: auf die Strecke von Schulter und Schlüsselbein bis zu den Fingerspitzen, bezog, mit der Zeit legen würde.

      Noch immer waren sie Gäste und Schutzsuchende der Tloxi, des geheimnisvollen Sklavenvolks der Sineser. Noch immer wanderten sie allnächtlich von einer der Enklaven und Vorstädte zur nächsten. Noch immer lebten sie in ständiger Gefahr und Todesangst, die durch die beinahe alltäglichen Berichte über Tloxi, die den brutalen Nachstellungen der Herrenkaste zum Opfer gefallen waren, nicht gerade gelindert wurde. Wie Symbionten in einem Ameisen- oder Termitenstaat bewegten sie sich durch die Quartiere und Verstecke der Tloxi. Sie lebten ausschließlich in dem Katakombensystem des insektenhaften Robotervolkes, das seine Schlafstädte miteinander verband, Industriebrachen, Hafen- und Fabrikgelände und Teile der Kanalisation mit einbezog und wie ein lymphatisches Geflecht ganz Sina City unterhalb seiner monumentalen Oberfläche durchzog. Tagsüber schliefen sie in den roten Ziegelstädten, die entlang der großen Magistralen und Radialstraßen in die Außenbezirke der Megalopolis eingelassen waren, und nachts nahmen sie ihre ruhelose Wanderung wieder auf. Durch Tunnel und Stollen, miteinander vernetzte Bunker, leerstehende Lagerhallen, stillgelegte Produktionsstätten, verfallene Schächte und sogar Pipelines gingen ihre Wege, selten auch unter freiem Himmel, über riesige Abraumhalden, Depots ausgebrannter thermischer Elemente, Müll- und Schrottplätze und ganze Schiffsfriedhöfe, auf denen komplette Raumflotten in den ätzenden Winden und dem sauren Regen dieses unwirtlichen Planeten vor sich hinrotteten. Das alles sahen sie nur in den kalten windigen Nächten von Sina, und unterschwellig blieben sie dabei immer auf das Zentrum der Metropole ausgerichtet, dessen Türme sie stets in der Ferne leuchten sahen und das sie wieder und wieder umkreisten.

      Zu Lamberts Argwohn gegenüber den Tloxi mochte auch die unverhohlene taktische Rationalität beigetragen haben, deren Zeuge und beinahe auch deren Opfer sie geworden waren. Jennifer hatte recht behalten: es war den Tloxi ein leichtes, Taylors verlorene Gliedmaße zu ersetzen, aber sie warteten damit bewusst, bis Norton und seine Frau den Planeten verlassen hatten. Es war eine unausgesprochene Geiselnahme, mit der die Tloxi sicherstellten, dass die Mitglieder der Union ihr Interesse an ihrer Sache nicht wieder verloren. Während das Scharmützel am Raumhafen noch andauerte, in dessen Verlauf Frank und Jennifer ein kleines sinesisches Shuttle kapern und darin fliehen konnten, wurden Taylor und Lambert zu einer der rätselhaften Tloxi-Fabriken geführt. Der Atem stockte ihnen, als sie die mehrere hundert Meter lange, aus gelbgrünen Elastalplatten gefügte Halle betraten. Es war eine Fertigungsstätte, das sah man auf den ersten Blick, und das Produkt, das hier hergestellt wurde, war kein anderes als die Tloxi selbst. Gegenwärtig standen die Bänder still. In großen Vorratscontainern