Die Umgebung des Klosters sah wie ein Schlachtfeld aus. Menschliche Exkremente und tierischer Dung hoben sich vom nackten Felsgrund ab. Die schwarzen Narben der offenen Feuer waren in regelmäßigen Abständen in die Landschaft gesprenkelt. Skelette von toten Tragtieren, die hier oben den Strapazen erlegen waren, ragten aus dem Geröll auf, und die Überreste von Wollhühnern, Ilagänsen und anderem lebenden Proviant bildeten blutige Klumpen. Auch zerfetzte Zelte und zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände flatterten am Boden. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Sonne, die Trockenheit und der unbarmherzige Wind die Einöde außerhalb der Klostermauern in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederhergestellt hatten.
Wir hatten beschlossen, noch eine Nacht hier zu verbringen, auch wenn uns das Innere der Gompa nach dem Ende des Festes und unserer offiziellen Verabschiedung durch Tsen Resiq verschlossen bleiben würde. Ohnehin würden wir das Ende der Karawane bald eingeholt haben, wo sich die Alten, Kranken, Familien mit Kindern und Leute, deren Tragtiere verendet waren, unter unglaublicher Mühsal wieder in ihre Heimatdörfer zurückschleppten.
»Jedenfalls haben wir jetzt alles, was wir brauchen«, sagte Jennifer, als wir ins Zelt gekrochen waren und den Eingang versiegelt hatten.
Aus dem Tornister holte sie einen Spatel und einen kleinen Elastinzylinder hervor, wie man sie benutzt, um auf wissenschaftlichen Missionen Bodenproben zu nehmen. Ich bemerkte jetzt erst, dass sie den rechten Zeigefinger im Inneren der Hand geborgen hatte. Jetzt streckte sie ihn aus und schabte den Belag ab, der wie schwarzer pudriger Ruß aussah. Sie klopfte das Pulver in den Zylinder und verschloss ihn sorgfältig.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, kicherte sie und strahlte mich fröhlich an.
Am nächsten Morgen brachen wir das Zelt ab, schulterten die Rucksäcke und begannen mit dem Rückmarsch. Der Weg war nicht zu verfehlen. Tote Lasttiere, zurückgelassenes Gepäck, tote und sterbende Menschen säumten die unbefestigte Piste. Immer wieder kamen wir an Menschen vorbei, die von den ihren aufgegeben worden waren. Sie lagen im Staub und warteten auf das Ende. Keiner flehte um Hilfe oder nahm uns überhaupt zur Kenntnis, und Jennifer zog mich, der ich ihnen wenigstens etwas zu trinken geben wollte, unbarmherzig weiter.
»Was ist das für ein Wahnsinn?!«, fluchte ich, als wir in zügigem Tempo weitermarschierten, direkt auf den tiefsten Einschnitt der Kaliganschlucht zu. »Wie viele kommen um von denen, die diese Reise antreten, jeder Zehnte, jeder Fünfte?«
Jennifer ging unbeeindruckt weiter, am Körper einer alten Frau vorbei, mit deren schwarzer Kapuze der Wind spielte.
»Sie haben das Pranavana gesehen«, brummte sie unwirsch. »Die Ewigkeit. Der Actinidische Götze ist das Pranavana. Jetzt kann ihnen nichts mehr etwas anhaben. Selbst der Tod ist nur noch eine Erlösung für sie.«
»Es ist ein Wahnsinn«, rief ich dem Wind entgegen, der mit jedem Schritt, den wir nach Süden kamen, stärker wurde und der uns Sand und glühenden Staub entgegenschleuderte.
Bald waren wir auf das Ende der Karawane aufgelaufen. Es glich einem Exodus, einem Bild von alttestamentarischer Wucht und Grausamkeit. Männer, die verzweifelt auf ihre Tiere einschlugen und sie dem peitschenden Sturm entgegenprügelten. Greise, die am Wegesrand sitzen blieben, um auf den Tod zu warten. Ehemänner, die ihre schwangeren Frauen zu schieben und zu tragen versuchten und sie schließlich liegen lassen mussten. Ich hätte einem Mann helfen können, dessen Karren bis über die Radnabe im Sand stecken geblieben war, oder ich hätte das Kind tragen können, das von seiner Mutter auf einer flimmernden Düne abgesetzt wurde, weil sie es nicht mehr schleppen konnte. Sie wollte bei ihm bleiben, um gemeinsam mit ihm zu sterben, aber ihr Mann zog sie weiter. Und so ging es nun tausenden. Wir hasteten daran vorüber, blind und erstickt von dem tobenden Wind, der uns entgegenstand, und benommen von der Uferlosigkeit des Leidens, das wie ein unfassbares Panorama menschlichen Elends an uns vorüberzog. Auf diesem Teil des Weges marschierten wir, so rasch wir konnten, und gönnten uns nur die nötigsten Pausen, so dass wir die fünftägige Strecke des Aufstieges in weniger als der Hälfte der Zeit hinter uns brachten. Am Abend des zweiten Tages rasteten wir oberhalb des Einstiegs zum Tor des Todes. Ein dunkles Heulen, Grollen und Sausen drang aus dem Felsenmaul. Das Monster fletschte die Zähne und brüllte um Nahrung. Kilometerhoch über uns glühten die Zinnen der Ilaya-Kette im Abendrot auf, dann senkte sich die blauschwarze Nacht über das Gebirge. Wir warteten weiter ab, bis der Orkan, der uns aus dem Engpass entgegenschrie, sich ein wenig legte und die brennenden Felswände sich etwas abgekühlt hatten. Dann stiegen wir in die Schlucht ein. Wir achteten nicht mehr auf die Pilger, die sich hier erschöpft und verzweifelt vorwärtskämpften, sondern marschierten so schnell wie möglich, um den tiefsten Teil des Kaligan bis Sonnenaufgang passiert zu haben. Eine Stunde vor Tagesanbruch, als der Wind an den breiteren Stellen der Talsohle fast eingeschlafen war, schleppten wir uns durch das Tor des Todes, wo die senkrecht aufsteigenden Felswände fast aneinander stießen und der Sturm immer noch so stark war, dass wir uns Schritt für Schritt vorwärts zwingen mussten. Als der Himmel über uns aufflammte und die Bergspitzen lotrecht über uns wie frisches Blut erglänzten, hatten wir den Durchgang hinter uns gebracht. Wir wichen sofort in die Flanke eines Seitentales aus, wo wir den Tag verbrachten, und setzten dann am Abend den Rückmarsch fort. Vier Tage später kamen wir in Feba an, wo wir zwei Nächte in einem Bungalow am See verbrachten, um uns zu regenerieren. Hier gestattete Jennifer mir auch wieder das Beilager. Pem Ba und sein Sohn brachten uns schließlich mit ihrem roststarrenden Gleiter zum Raumhafen.
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