»Zum Beispiel die Beschläge ...«, dachte sie laut nach. »Findet Ihr nicht, dass sie ein wenig angelaufen wirken?«
Tsen hielt sie mit der rechten Hand auf eifersüchtiger Distanz, während er sich behutsam umwandte und die goldenen Beschläge des Schreins zu betrachten vorgab.
»Sie wurden vor dem Fest poliert«, stieß er hervor.
Ein unwilliger Ruck ging durch ihn. Ich erwartete unwillkürlich, dass er wie ein trotziges Kind aufstampfen würde, als er quengelnd ausrief:
»Liebste Jennifer, ich verstehe wirklich nicht, worauf Sie ...«
»Umso merkwürdiger«, fiel sie ihm ins Wort, »dass sie schon wieder schwarz und trübe sind!«
Wir erstarrten. In einem unbedachten Moment ließ ich mich von Neugierde hinreißen und ging jetzt meinerseits näher an den schwarzen Schrein heran. Die beiden Mönche, die mit übermannshohen Hellebarden bewaffnet waren, marschierten quer durch den Raum auf uns zu. Ihre Gesichter waren steinerne Abbilder der Entschlossenheit, Kriegerfratzen, wie sie bei den Maskentänzen Verwendung fanden. Sie ließen jedenfalls keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie nicht zögern würden, uns und sogar den Lama in der Luft zu zerfetzen, wenn wir Anstalten machen sollten, den Götzen aus dem Behältnis zu nehmen.
Jennifer hob die Hände und verschränkte sie dann demonstrativ hinter dem Rücken.
»Vertrauen Sie mir«, sagte sie. Dabei wandte sie sich ausschließlich an den alten Lama und würdigte die beiden Männer, die nun unmittelbar neben ihr standen, keines Blickes.
Ich sah, dass Tsen am ganzen Körper zitterte und dass ihm der Schweiß auf die Stirne trat. Bei einem Großmeister des Prana Bindu hatte diese Beobachtung eine alarmierende Aussagekraft. Jennifer hatte sich sehr weit vorgewagt. Sie rührte hier an ein Tabu, bei dem alle Argumente und alles Zureden gegenstandslos wurden. Aber was beabsichtigte sie überhaupt?
»Großer Vater«, wiederholte sie. »Ich garantiere Euch, dass ich den Götzen nicht anrühren und den Schrein nicht öffnen werde. Aber erlaubt mir, von den Beschlägen eine Probe zu nehmen.«
Alle vier Mönche stießen ein dumpfes Murmeln aus, das nicht freundschaftlich klang. Tsen Resiq atmete hörbar durch. Ich wusste ja, auf was es hinauslaufen würde, aber auch er schien Jennifer gut genug zu kennen, obwohl er sie nur einige Monate lang unterrichtet hatte und obwohl das zwanzig Jahre zurücklag, um zu wissen, dass er sie anders nicht loswerden würde, als indem er ihr nachgab.
»Liebe Jennifer«, sagte er. »Dieser Schrein birgt das Heiligste, das unsere Religion besitzt. Und bei allem Respekt vor Ihrer Wissenschaft hätte ich kein gutes Gefühl, wenn Sie mit Ihrem Instrumentarium auch nur an die äußere Hülle dieses Objektes der Verehrung herangehen würden. Proben nehmen, analysieren, auswerten ... - Sie sind tief genug in unseren Glauben eingedrungen, um zu wissen, dass schon ein solcher Gedanke, eine solche Absicht diesen Ort entweiht. Es wäre, als würden sie mich bei lebendigem Leib sezieren, mein schlagendes Herz in der Hand halten und mit ungeschütztem Blick betrachten.«
Jennifer lächelte und schwieg.
Der Alte breitete die Arme aus und trat einen Schritt nach vorne, um uns weiter von der Schatulle wegzudrängen.
»Die Beschläge sind schwarz«, sagte Jennifer leise, als spreche sie mit sich selbst. »Der ganze Schrein ...«
»Er besteht aus Obsidianholz«, fiel Tsen ihr ins Wort. »Dem härtesten und dunkelsten Holz von Musan. Es verschluckt alles Licht. Keine Politur kann es zu eitlem Glanz verleiten.«
»Aber seht es Euch doch an«, insistierte Jennifer. »Die Fugen, die Ecken und Kanten.«
Tsen dachte gar nicht daran, sich den Schrein näher zu besehen. Er hätte ihr dazu den Rücken kehren müssen. Stattdessen versuchte er uns weiter abzudrängen.
Plötzlich wand sich Jennifer an ihm vorbei, schnellte vor und baute sich vor dem schwarzen Kasten auf.
»Seht doch«, sagte sie, während sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand prüfend über eine Kante und einen Eckbeschlag der Schatulle fuhr. »Hier! Und diese Nieten.«
Die Mönche stürmten vor, die Hellebarden im Anschlag. Tsen konnte sie nur zurückhalten, indem er seinerseits herumwirbelte und Jennifers Hand wegschlug.
Als habe sie sich zu einer unbesonnenen Handlung hinreißen lassen, kehrte sie an meine Seite zurück.
»Entschuldigen Sie mich«, säuselte sie und setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« Und mit fröhlicher Miene fügte sie in meine Richtung hinzu: »Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt gehen.«
Die beiden Mönche zogen sich langsam und knurrend zurück. Tsen blickte uns starr an. Wir gingen Seite an Seite einige Schritte rückwärts, deuteten eine Verbeugung an und wandten uns dann zur Tür.
»Sie haben recht«, sagte Jennifer zu Tsen. »Glauben und Wissen sind zwei getrennte Welten. Man soll die Sphären nicht mischen.«
»Leben Sie wohl, mein Kind«, erwiderte Tsen Resiq kalt. Erst als er sah, dass wir uns tatsächlich zu gehen anschickten, wurde seine Miene wieder weicher. »Sie beide«, sagte er noch. »Und kommen Sie einmal wieder.«
Die Mönche zerhackten uns mit blutunterlaufenen Blicken, als sie auseinandertraten und uns die Tür öffneten.
»Was sollte denn das?«, fragte ich atemlos, als wir durch das Labyrinth aus Gängen, Treppen und Höfen zu unserem Zelt eilten.
»Das wirst du schon noch sehen«, sagte sie fröhlich.
Wir duckten uns unter zwei schweren Vorhängen durch, die anstelle einer Tür ein wuchtiges Portal verschlossen, und liefen über den menschenleeren Freihof, der sich dahinter anschloss.
»Anfangs hatte ich wirklich nur einen leisen Verdacht«, plauderte sie, während wir durch verwinkelte Gänge weiterhasteten. »Vor allem die Beschläge der kleinen Tür, durch die der Götze entnommen wird.«
Sie verstummte, als uns eine Gruppe von Mönchen entgegenkam. Wir erwiderten ihren Gruß und ihr freundliches, aber unpersönliches Lächeln und warteten, bis wir eine Ecke zwischen sie und uns gebracht hatten.
»Richtig neugierig wurde ich«, fuhr Jennifer fort, »als ich sah, wie nervös er wurde.«
Ohne ihren Lauf zu verlangsamen, sah sie mich von der Seite an. Sie strahlte, als habe sie mir soeben eine revolutionäre Entdeckung mitgeteilt.
»Der Mann ist Großmeister und oberster Lama des Prana-Bindu-Ordens«, sagte sie. »Er könnte sich mit einem glühenden Dolch die Eingeweide zerschneiden und dich dabei ansehen, ohne eine Miene zu verziehen, Frank.«
»Das ist mir auch aufgefallen«, keuchte ich. »Der Götze ist eben sein wichtigstes Heiligtum. Das hast du mir doch selbst erklärt.«
Sie schüttelte nur den Kopf und bog in den Seitenflügel ab, der uns zu unserem Zelt bringen würde.
»Da war noch etwas anderes.«
Durch eine einfache Tür aus nacktem Holz verließen wir das Gebäude und traten ins Freie. Wir befanden uns auf der Rückseite des Klosterkomplexes, unweit unseres Lagerplatzes. Die Fläche zwischen den Mauern der Großen Gompa und der Steilwand, die im Norden hinunterstürzte, war wieder so gut wie leer. Die meisten Pilger hatten schon gestern Nachmittag, unmittelbar nach Abschluss der Zeremonie, den Rückweg angetreten. Die übrigen waren heute morgen aufgebrochen. Nur die Abgesandten anderer Klöster, die sich, wie wir, von Tsen Resiq persönlich verabschiedeten, waren noch da. Sie wohnten aber im Hauptgebäude. Wir schlenderten durch den Staub