Der Actinidische Götze. Matthias Falke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Falke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783957770271
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einem lebenden Postament, das allein der Präsentation des Allerheiligsten diente. Das helle unwirkliche Grau, das über allem lag, vertiefte den Eindruck eines aus aller Zeit und Realität herausgefallenen Augenblicks, einer ewigen Sekunde, die aus dem Fluss der Vergänglichkeit herausgelöst, abgeschnitten und sich selbst überlassen war. Ich bereute, dass ich den optischen Feldstecher nicht mitgenommen hatte, der sich wie eine Brille auf der Nase tragen ließ, aber Jennifer hatte es untersagt. So musste ich versuchen, mir den Götzen mit bloßen Augen einzuprägen, aber ich erkannte nur, dass es sich um eine Statuette handelte, die aus rotem und schwarzem Stein geschnitten und kostbar vergoldet zu sein schien und von der zwei handflächengroße Gebilde wie Flügel abstrahlten. Der Stillstand der Zeit dauerte zwei, vielleicht drei Minuten. Dann riss der Lama den Götzen herunter und ließ ihn mit einer blitzschnellen Bewegung in der Schatulle verschwinden, die im selben Augenblick von den vier hohen Mönchen hinausgetragen wurde. Das Licht nahm wieder seine alte Grelle an. Die Menge stöhnte in einem letzten gemeinschaftlichen Schrei auf und fiel dann wieder zum gewohnten Stimmengewirr auseinander. Einige Kleinkinder begannen zu heulen, eine Frau lachte. Erstaunlich rasch zerstreute sich die Masse. Die Mönche packten ihre Instrumente ein und verschwanden in verschiedene Richtungen. Nach wenigen Minuten war der große Freihof so gut wie ausgestorben. Ich saß als einer der letzten noch an meinem Platz, benommen und ergriffen wie offenbar kaum einer der Gläubigen. Auch Jennifer war schon aufgestanden. Sie strich mir durch das Haar und tätschelte meine Wange, eher kameradschaftlich als zärtlich.

      »Es ist vorbei«, sagte sie. »Du warst Zeuge eines mystischen Ereignisses.«

      »Es freut mich, mein Kind, dass sie nach all den Jahren den Weg nach Loma Ntang gefunden haben, um wieder am Mysterium von Gu Tsechu teilzunehmen.«

      Tsen Resiq berührte Jennifers Stirn in der Geste des Prana-Segens.

      »Das gilt auch für Sie, Commander«, fuhr er fort. »Ich weiß, Sie sind ein Mann der Wissenschaft. Aber der Anblick des Actinidischen Götzen wird auch für Sie nicht ohne Wirkung bleiben.«

      Ich nickte zum Zeichen meiner Zustimmung. Das war sogar ernst gemeint. Die rätselhafte Zeremonie hatte mich durchaus beeindruckt und sogar aufgewühlt. Ich neigte mich vor und gestattete dem alten Lama, auch meine Stirn mit den Fingerspitzen zu berühren.

      Dann nahm er unsere Hände, legte sie ineinander und schrieb mit Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten eine schleifenförmige Bewegung darüber, die bei oberflächlicher Betrachtung auch ein Kreuz hätte sein können. Alle Religionen sind eins, begriff ich, wenn nicht auf dogmatischer Ebene, so doch in der Ehrfurcht vor dem Sein.

      Ich sah wieder den Götzen vor mir, wie Tsen Resiq ihn in den klaren, aber fahlen Mittagshimmel gehoben hatte. Der Kultgegenstand hatte umso intensiver aufgeleuchtet, je mehr die gesamte Umgebung grau und matt geworden war, als habe er alle Farbe des Universums in sich aufgesogen, um sie nach einem Innehalten unbestimmter Zeitdauer wieder in den Kosmos hinauszuschleudern, der daraufhin prächtiger und prangender erstrahlte als zuvor.

      Der Alte gab unsere Hände frei. Er legte die Linke auf Jennifers Schulter, die Rechte auf meinen Oberarm, so dass wir ein Dreieck bildeten. Wir verharrten einige Sekunden in dieser Aura der Nähe und Aufgehobenheit. Dann trat der 14. Avatar Ava Kiteshvars einen Schritt zurück und musterte uns verschmitzt. Alle Feierlichkeit wich von seinem hundertjährigen Runengesicht, als er uns fröhlich zuzwinkerte.

      »Kommen Sie beide so bald wie möglich wieder. Warten Sie keine zehn oder zwanzig Jahre ab, und kommen Sie nicht, wenn eines der großen Klosterfeste meine Aufmerksamkeit beansprucht. Dann haben wir Zeit, uns ausführlich und ungezwungen zu unterhalten.«

      »Das werden wir tun, Ehrwürdiger Lama«, sagte Jennifer.

      Ich murmelte ebenfalls eine Floskel der Zustimmung. Stille breitete sich im Empfangsraum aus, wo Tsen Resiq zwischen dunklen Holztäfelungen und farbenfrohen Seidenampeln Audienz gab. Ich bemerkte, dass sein Blick zu den Mönchen wanderte, die im Eingangsbereich der Halle darauf warteten, die nächsten Gäste vorzulassen, denn auch an diesem Tag gaben sich die Würdenträger die Klinke in die Hand, um sich vom Oberhaupt des Prana-Bindu-Ordens zu verabschieden. Indem ich seinem Blick folgte, fiel mir der schwarze Schrein auf, der an der Längsseite des Saales auf einem Podest aus gelber Seide stand. Es war die Schatulle des Actinidischen Götzen, die man noch nicht wieder an ihren Aufbewahrungsort zurückgebracht hatte, wo sie die nächsten zehn Jahre überdauern würde.

      »Er bleibt noch ein paar Tage hier«, sagte Tsen, dem die Bewegung meiner Augen aufgefallen war. »Die Gäste, die kommen, um sich zu verabschieden, nehmen auch seinen Segen mit auf die Heimreise. Und er gibt mir Kraft durch seine Anwesenheit, selbst wenn er verhüllt ist.«

      Wir mussten gehen. Ich spürte, wie die Zeit schmerzhaft wurde, selbst für den alten Mönch in seiner unermesslichen Geduld und Weisheit, aber Jennifer machte keine Anstalten, den Empfangsraum zu verlassen. Wie stand sie da.

      »Noch ein Wort, Großer Vater der Gläubigen«, bat sie jetzt

      Dieser Beiname Tsen Resiqs war mir bis jetzt nicht geläufig gewesen. Ich begriff aber sofort, dass es sich um eine sehr selten benutzte Bezeichnung handelte, die nur in besonderen Ausnahmefällen zur Anwendung kam.

      Die sternförmigen Fältchen in den Augenwinkeln des Alten waren wie weggewischt. Seine Miene wurde im Augenblick abwartend und ernst. Ich begriff, dass die Ansprache, die Jennifer gewählt hatte, bereits ein Anliegen signalisierte, das alles andere als alltäglich war. Dabei hatte ich keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Selbstverständlich hatte sie mich im Vorfeld mit keinem Wort eingeweiht.

      »Der Götze«, flüsterte sie mit einem Seitenblick zu den Mönchen, die neben der Eingangspforte Wache standen. »Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, vor zwanzig Jahren, und dann wieder bei der gestrigen Enthüllung.«

      Der Alte war jetzt hellwach. Ich konnte sehen, wie er sich abmühte, die Fassung zu bewahren und die Runzeln des Misstrauens, die über seine zerfurchte Stirne zuckten, zurückzudrängen.

      »Er schien mir«, sagte Jennifer mit einer Stimme, die bis an die unterste Grenze der Hörbarkeit gesenkt war, »er schien mir verändert.«

      »Was sagst du da, mein Kind?«, fragte Tsen, dem es nicht gelang, alle Anzeichen der Beunruhigung aus seinen Worten zu verbannen.

      Ich ahnte, was für eine Bedeutung dieser Gegenstand in der Wertschätzung dieses Ordens haben musste, wenn allein ihn im Tonfall des Verdachtes anzusprechen, eine solche Erschütterung bewirkte.

      »Er schien mir«, Jennifer suchte nach dem rechten Ausdruck, »so getrübt. Irgendwie glanzlos.«

      Mir wäre beinahe herausgerutscht, dass ich den Götzen über alle Maßen strahlend und farbenprächtig wahrgenommen hatte, und dass der Eindruck des Fahlen von der Sonnenfinsternis herrührte. Aber das Gu Tsechu-Fest würde immer auf ein solches Ereignis gelegt werden.

      Wie beiläufig hatte sie sich in Bewegung gesetzt, um zu dem schwarzen Schrein hinüberzugehen. Keine zehn Schritte trennten uns von dem goldbeschlagenen Kasten auf seinem Postament aus gelber Seide.

      Die vier Mönche, die die Tür bewachten, standen stramm. Zwei von ihnen präsentierten die silbergeschmückten Hellebarden, deren Spitzen bedrohlich aufleuchteten. Tsen gab ihnen ein Zeichen ihre Position beizubehalten. Dann beeilte er sich, Jennifer zu überholen und sich zwischen ihr und dem Schrein aufzubauen.

      »Was haben Sie vor, mein Kind?«, fragte er schnarrend. »Ihnen ist klar, dass der Götze nicht vor dem nächsten turnusgemäßen Anlass wieder enthüllt werden wird.«

      Er stand jetzt unmittelbar vor dem Kultgegenstand und stieß mit dem Rücken an den mit gelber Seide verkleideten Unterbau. Aus zusammengekniffenen Augen funkelte er Jennifer herausfordernd an.

      »Keine Macht des bekannten Universums wird das Behältnis des Actinidischen Götzen vor dem kommenden Gu Tsechu-Fest öffnen«, zischte er. »Es sei denn, über meine Leiche.«

      Jennifer begriff, dass sie sich zu weit vorgewagt hatte. Sie trat wieder einen Schritt zurück und hob begütigend die Hände.

      »Das weiß ich, Ehrwürdiger Lama«, sagte