Noch einmal blickt er sich um und grinst schließlich erleichtert, da alles um ihn ruhig geblieben ist. Nur die übrigen Geschöpfe in dem Käfig machen einen Aufstand, doch das kümmert ihn nicht. Vorsichtig biegt er den Draht in seine ursprüngliche Stellung zurück und klettert flink über die Regenrinne wieder hinauf aufs Dach. Dort versteckt er sich im Schatten des alten Schornsteins und verspeist seine Beute.
KAPITEL 3 – GRANDMA‘S SPEZIALSOßE
Als ich nach Schulschluss verträumt den Weg zu den Parkplätzen hinunter schlenderte und schließlich an meinem Audi ankam, fiel mir auf, dass die schwarze Corvette nicht mehr an ihrem Platz stand. Entweder war Nathan pünktlich um halb drei aus dem Unterricht gestürmt und davon gefahren oder aber er hatte einige Stunden geschwänzt. Das würde auch erklären, warum ich ihn nach der Mathestunde nicht mehr gesehen hatte. Nicht, dass ich nach ihm Ausschau halten würde, aber er war nun wirklich nicht zu übersehen.
Nichts ahnend stieg ich in mein Auto und machte mich auf den Weg nach Hause. Erst später würde ich erfahren, warum der geheimnisvolle Corvettefahrer so plötzlich die Flucht ergriffen hatte.
Während der Fahrt konzentrierte ich mich nicht wirklich auf den Weg, schaute mir nicht die farbenprächtig aufblühende Gegend an, sondern war in Gedanken schon bei meinem neuen Zimmer. Da ich heute in keinem Fach Hausaufgaben aufbekommen hatte, wollte ich die Zeit nutzen, um endlich mal die unzähligen Kisten auszupacken und alles nach meinem Geschmack einzurichten.
Ich bemerkte, dass meine Eltern nicht zu Hause waren, als ich die große Eingangstür aufdrückte und den Flur betrat. Stattdessen klebte ein kleiner Zettel am Spiegel und ich erkannte sofort die Handschrift meiner Mutter.
Sind noch schnell was erledigen. Kommen so gegen 6 Uhr wieder. Stell bitte um 5 den Herd an. Danke.
Perfekt. Ich konnte also tun und lassen, was ich wollte. Schnell holte ich mir noch meinen Lieblingsjoghurt aus dem Kühlschrank und stieg dann die Treppe zum ersten Stock hinauf. Als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete, stand ich vor einem tristen und schlichten weißen Raum.
Da muss ich unbedingt was dran ändern.
Die erste Kiste, die ich öffnete, beinhaltete hunderte von Skizzen, die ich selbst damals in Portland angefertigt hatte. Da waren Portraits von meinen Eltern, von meinen Freunden und natürlich auch von Julien. Die schönsten Bilder von meinen Eltern hängte ich über mein Bett, die Restlichen verstaute ich. Wie zuvor das Foto von Julien, legte ich sie in die unterste Schublade meines Nachttischs. Die Erinnerung an mein altes Leben war einfach zu schmerzhaft, die Wunde war zu frisch.
Als ich endlich zufrieden mit den ausgewählten Bildern war, machte ich mich an die anderen Umzugskartons. Als erstes räumte ich all meine Kleider in den Schrank, danach sortierte ich meine Schulsachen in den Schreibtisch ein, der an der Wand unter meinem Fenster stand, und während ich noch das ein oder andere irgendwo verstaute, hätte ich fast die Zeit vergessen. Beinahe zufällig blickte ich um 17:04 Uhr auf die Uhr. Gerade noch rechtzeitig.
Schnell stieg ich die Treppe herunter, nahm dabei jeweils zwei Stufen auf einmal und sprintete in die Küche. Als ich den Herd öffnete, um zu schauen, was meine Mutter vorbereitet hatte, schwebte mir sofort der köstliche Duft von Grandma‘s Spezialsoße entgegen. Tausende von Erinnerungen strömten in diesem Moment in meinen Kopf.
Die ersten zeigten einen schönen Sommertag. Ich sah mich, wie ich damals bei meinen Großeltern im Garten gesessen hatte und schon von Weitem riechen konnte, wenn meine Oma mit ihrem »Nudelauflauf speciale« die Treppe herunter kam. Ich war fröhlich, lachte… Dieser Auflauf war einfach mein Lieblingsgericht gewesen und ich hatte jedes Mal so viel davon gegessen, dass mir danach schlecht wurde. Ein Lächeln flog über meine Lippen. Ich wünschte mich in diese Zeit zurück.
Dann plötzlich schienen die Gedanken an meine Großeltern wie aufgereihte Dominosteine zu kippen und setzten eine Kettenreaktion in Gang. Im nächsten Moment schossen weitere Erinnerungen in meinen Kopf. Bild- und Wortfetzen, die ich seit diesem einen Tag vergeblich zu verdrängen versuchte. Bilder, die ungewollt vor meinem inneren Auge erschienen. Tränen stiegen mir in die Augen, die alte Wut kochte wieder hoch. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und einem dicken Klos im Hals erinnerte ich mich zurück.
Vor ziemlich genau einem Jahr hatte sich in unserer Familie eine Tragödie abgespielt. Da es mit dem FBI zu tun hatte, wusste ich leider nicht viel darüber. Was ich jedoch wusste, war absolut grausam. Mein Vater hatte irgendeinen gefährlichen Fall – mehr sagten sie mir nicht – und war nah dran, diese Gangster auffliegen zu lassen, als er ungewollt einen schweren Fehler beging. Irgendwie hatten die Kriminellen den Namen meines Vaters herausbekommen und sich dann ganz legal bei der Auskunft unsere Telefonnummer geben lassen. Irgendwo hatten sie ein Mädchen in meinem Alter aufgetrieben und zwangen sie, bei uns zu Hause anzurufen, um sich zu erkundigen, wo ich mich aufhielt. Sie hatten wahrscheinlich vor, mich zu entführen, um meinen Vater später erpressen zu können.
Die ganze Sache war etwas verwirrend. Mein Vater sagte dem Mädchen am Telefon, dass ich den Tag bei meinen Großeltern verbringen würde und gab ihr deren Adresse, ohne zu ahnen, welche fatalen Folgen das haben würde. Was er zum Glück nicht wusste, war, dass ich mir eine Grippe zugezogen hatte und deshalb gar nicht bei Oma und Opa gewesen war.
Am Abend erzählte er mir dann, dass eine Freundin namens Tiffany angerufen und nach mir gefragt hatte. Ich war mir jedoch absolut sicher, dass ich keine gleichnamige Person kannte. Wir ahnten das Schlimmste. Ohne groß darüber nachzudenken, stiegen wir alle ins Auto und fuhren zum Haus meiner Großeltern, welches in Gresham, keine 25 km von Portland entfernt, lag.
Plötzlich brach die Erinnerung ab. Nur noch Wortfetzen, verschwommene Bilder…
Oma und Opa am Boden …
… Blut …
»Sie sind beide tot«
… so viel Blut …
»Sieh nicht hin, Anjuli«
… ganz viel rotes Blut …
»tot«
...
Schnell schüttelte ich den Kopf, hielt mir mit der einen Hand die Augen zu und versuchte mit der anderen meine Ohren zu bedecken. Ich wollte das nicht hören, ich wollte das nicht sehen!
Ein halbes Jahr war ich zur Therapie gegangen, um das alles zu vergessen, und jetzt kam es so plötzlich wieder hoch, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte. Ich sank laut keuchend auf den Küchenboden und spürte, wie dicke Tränen meine Wangen hinab rannen. Ich versuchte mit aller Kraft an etwas Positives zu denken … so viel Blut … und stimmte leise im Kopf mein Lieblingslied an.
Baby you're all that I want
When you're lyin' here in my arms
I'm findin' it hard to believe
We're in heaven
And love is all that I need
And I found it there in your heart
It isn't too hard to see
We're in heaven
Ich hörte weit entfernt das Ticken der Uhr – um mich herum schien die Zeit jedoch stehen geblieben zu sein. Leise summte ich Bryan Adams vor mich hin und versuchte mich zu beruhigen. Ich suchte verzweifelt nach irgendetwas Positivem in meinem Kopf. Plötzlich tauchten ungewollt Bilder von heute Morgen auf. Ich sah Daniel, wie er mich anlächelte, Kathy, die