Was war das?
Die Vögel über mir fingen laut an zu zwitschern, flogen davon. Entsetzt wirbelte ich herum. Für Cleopatra wäre das viel zu laut gewesen, aber was konnte es dann sein? Ein Reh? Vor mir sah ich nichts als Bäume und Gestrüpp. Zu hören war auch nichts mehr. Es herrschte Totenstille. Für meinen Geschmack war es etwas zu still und ich bekam es mit der Angst zu tun. Cleopatra würde ich später suchen, sagte ich mir und wollte mich gerade umdrehen, um zum Haus zurück zu gehen, da erschütterte ein lautes Gebrüll die Stille. Reflexartig hielt ich mir die Hände über die Ohren und erschrak über die Nähe der Geräuschquelle.
Wie angewurzelt stand ich da, fühlte mich unfähig, mich zu bewegen, lauschte in die erneut aufgetretene Stille hinein. Jede meiner Muskelfasern war so gespannt, dass es fast schmerzte – jederzeit bereit, meinen Körper in Bewegung zu versetzen und doch bewegte ich mich nicht von der Stelle. Wieso ich nicht einfach wegrannte, kann ich bis heute nicht sagen. Es war der Schock, der meine Adern gefrieren ließ.
Was kann das nur sein?
Ganz plötzlich trat ein großes, braunes Tier aus den Büschen, nur etwa hundert Meter von mir entfernt, auf die Lichtung.
Ein Bär war das einzige, was ich dachte, sein Gebrüll war das einzige, was ich hörte, die großen Pranken, mit denen er auf mich zukam, waren das Letzte, was ich sah, bevor ich mich umdrehte und so schnell lief, wie ich es vorher nie für möglich gehalten hätte.
Mein Kopf war leer, ich konnte nicht denken, wusste nicht, was ich tun sollte. Es musste der Instinkt sein, der mich um mein Leben rennen ließ. Mein Herz klopfte wie verrückt, mein Atem ging stockend. Ich keuchte vor Anstrengung, hörte immer wieder das Hecheln des Bären hinter mir.
Er verfolgt mich. Wieso? Wie ist das möglich? Wird er mich töten?
Ich sah nicht mehr, wohin ich lief. Alles verschwamm vor meinen Augen.
Angst und Verzweiflung pulsierten durch meine Adern. Ich war verloren. Meine Beine gaben nach, trugen mich nicht mehr. Immer wieder blieb ich an Ästen und Gestrüpp hängen, stolperte, richtete mich wieder auf, rannte weiter. Ich traute mich nicht, meinen Kopf zu drehen, wollte nicht sehen, wie nah die Bestie schon gekommen war. Das Gebrüll kam immer näher, er musste mich fast eingeholt haben.
Bären sind schneller als Menschen, war mein letzter Gedanke, der mir endgültig die Hoffnung raubte. Erneut stolperte ich über eine riesige Wurzel vor mir, hatte jedoch nicht mehr die Kraft aufzustehen. Ich zog die Beine an, legte die Arme schützend über meinen Kopf, war überwältigt von der Todesangst, die mich durchfloss. Ich wimmerte und zitterte, als ich das Gebrüll des Tiers unmittelbar neben mir vernahm und schloss bereits mit meinem Leben ab, als mich plötzlich ein starker Schlag an der Seite traf, mich einige Meter weit in das Gebüsch schleuderte und ich schließlich das Bewusstsein verlor.
Langsam öffnete ich die Augen. Das grelle Licht blendete mich.
Bin ich im Himmel?
Ich fühlte mich sicher und geborgen, lag auf einem weichen Untergrund, das konnte ich spüren. Es war warm und roch vertraut.
Aber wo bin ich?
Mein Herzschlag hatte sich normalisiert, ich atmete ohne Hast. Nichts war mehr zu spüren von den Anstrengungen, die ich eben noch durchlebt hatte.
Endlich hatte ich die Kraft, meine Augen ganz zu öffnen, und stellte mit Entsetzen fest, dass ich mich in meinem eigenen Zimmer befand. Ich lag in meinem Bett, war ordentlich zugedeckt worden und jemand schien mir den Dreck von Armen und Beinen gewischt zu haben. Sofort dachte ich an meine Eltern, doch als ich durchs Haus nach ihnen rief, blieb es still.
Wie bin ich aus dem Wald in mein Bett gekommen? Habe ich alles nur geträumt? Das war eindeutig ein Bär hinter mir, aber … Das ist unmöglich! Hier im Wald?
Langsam versuchte ich mich aufzurichten, doch sofort überkam mich ein stechender Schmerz an meiner rechten Seite. Ich zog die Kleidung ein Stück weit hoch und begutachtete die schmerzende Stelle. Ich hatte einen richtig fiesen Bluterguss, der meine ganze Rechte in allen Farben des Regenbogens erstrahlen ließ. Also doch kein Traum.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte ich mich zur anderen Seite, um die digitale Uhr sehen zu können. Sie zeigte 11 Uhr morgens an, aber wie war das möglich? Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar, dass ich wohl einen ganzen Tag verschlafen hatte, denn es war bereits Sonntag.
Mir war schwindelig und in meinem Kopf drehte sich alles, als ich versuchte, aus dem Bett zu steigen. Nur mühselig schaffte ich es die Treppe runter. Alles sah so aus, wie ich es verlassen hatte. In der Küche steckte sogar der Toast, den ich am vorigen Morgen hatte essen wollen, noch immer im Toaster. Ich erschrak, als ich plötzlich das leise Miauen von Cleopatra unter mir hörte und sah, wie sie sich an meine Beine schmiegte.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. So vieles sprach dafür, dass ich alles nur geträumt hatte, und doch waren der Toast und die Schmerzen sichere Indizien dafür, dass ich wirklich gestern von einem Bären verfolgt worden war. In Gedanken versunken, füllte ich Cleopatras Napf mit ihrem Lieblingsfutter, vergewisserte mich, dass die Wohnzimmertür verschlossen war und legte mich mit Kopfschmerzen zurück in mein Bett. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles möglich war und würde mir wahrscheinlich noch tagelang den Kopf darüber zerbrechen. Da meine Eltern mich nur für verrückt erklärt hätten, beschloss ich, ihnen nichts von dem Vorfall zu erzählen. Das Einzige, worum ich sie bitten wollte, war einen hohen Zaun an der Grenze zum Wald zu errichten.
KAPITEL 6 – DIE AUFLÖSUNG
Verträumt blickte ich aus dem Fenster, hing meinen Gedanken nach und verfolgte die Vögel am Horizont.
Sie sind so frei, können tun und lassen, was sie wollen. Keiner zwingt sie zu etwas. Es gibt keine Grenzen für sie am unendlichen Himmel. Sie haben keinen Erfolgsdruck – keiner erwartet Meisterleistungen von ihnen, sie sind einfach frei.
»Guten Morgen, Miss Aishani, ich hoffe Sie sind nicht nur körperlich anwesend?«
Ich zuckte zusammen, als ich die Stimme meines geliebten Mathelehrers direkt neben mir vernahm. Vor lauter Tagträumen hatte ich gänzlich vergessen, dass ich mich immer noch im Matheunterricht befand. Bei einem Blick durch die Klasse sah ich die schmunzelnden Gesichter meiner Mitschüler, die sich ziemlich darüber zu amüsieren schienen, dass ich mal wieder von Mr. Black bloßgestellt wurde. Unsicher was ich sagen sollte, kramte ich verzweifelt nach einer Ausrede in meinem Kopf. Schließlich stammelte ich:
»Ich wollte nur gerade die Aufgabe ausrechnen.«
Super. Etwas Besseres hätte mir wirklich nicht einfallen können. Wie erwartet zitierte Mr. Black mich an die Tafel und ließ mich meine ‚Ergebnisse präsentieren‘. Wie konnte er nur erwarten, dass man seinem Unterricht folgte? Für mich war das alles eine Welt aus Formeln, die mich wie Schlingpflanzen zu Boden zogen und versuchten, mich in ihr schreckliches Reich zu entführen. Ich konnte mit alledem einfach nichts anfangen – das wurde auch allen schnell klar, als ich begann, mich verzweifelt an den richtigen Rechenweg zu erinnern und dabei außer »Ehm, ja …« nicht viel herausbrachte. Immer wieder schweifte mein Blick hinüber zu Nathan, der ohne irgendeine Emotion an seinem Tisch saß und an die Tafel starrte. Ich war mir nicht sicher, ob er ein Lächeln unterdrückte oder ob es ihn einfach nur nervte, dass ich überhaupt keine Ahnung von Mathe hatte. Jedenfalls war mir das Ganze unendlich peinlich. Ich war so froh und erleichtert, als endlich die Klingel ertönte und den Unterrichtsschluss verkündete. Mr. Black kam auf mich zu, schaute von mir zu dem Gekritzel, das ich an der Tafel fabriziert hatte, wieder zurück zu mir und sagte mit ernster Miene: »Vor der Mathearbeit nächste Woche sollten Sie vielleicht noch ein bisschen üben und besser im Unterricht aufpassen, Miss Aishani.« Dann drehte er sich weg und ich verließ den Raum so schnell ich konnte.
Plötzlich packte mich jemand am rechten Arm und zog mich leicht herum. Erschrocken blickte ich in die Augen eines großen