Da Ulric sein Gefährt auch mit den kräftigsten Ruderschlägen nur unwesentlich beschleunigen konnte, gab er seine Bemühungen nach einiger Zeit auf, zog die Blätter ein und streckte sich lang aus, um ein wenig zu schlafen. Die Strömung würde ihn schon in der Flussmitte halten.
Das ging auch eine Weile gut, dann aber stieß sein Boot gegen einen umgestürzten Baum, der sich vom Ufer losgerissen hatte und sich mit anderem Treibholz zusammen im Sand einer Untiefe verhakt hatte. Ulric ging über Bord, und es brauchte eine Weile, bis er prustend wieder auftauchte. Als er sich einigermaßen orientiert hatte, war sein Boot schon außerhalb seiner Reichweite, es hatte die Barre überwunden und trieb ohne ihn weiter in Richtung Havel. Ulric schickte ihm ein paar kräftige Flüche hinterher.
Irgendwoher kam Gelächter. Sollten ihn die alten Flussgötter der Slawen verhöhnen? Nein, am nördlichen Ufer standen Menschen und winkten ihm zu. Erst jetzt bemerkte er, dass hier das Land auf beiden Seiten der Spree gerodet war. Auch konnte er mehrere Holzhäuser und Hütten unterschiedlicher Größe ausmachen. Offensichtlich gab es hier eine Furt, und eine solche lud ja immer Menschen ein, an ihr zu siedeln.
Er schwamm ans Ufer und staunte, dass die Männer und Frauen, die sich dort versammelt hatten, keine der slawischen Idiome benutzten, sondern eine Sprache, wie sie bei den germanischen Völkern Mitteleuropas üblich gewesen war. Sein Althochdeutsch – Diutschin sprechin Diutschin liute in Diutischemi lande – verstanden sie kaum, und auch er hatte große Mühe, richtig zu deuten, was sie ihm mitteilen wollten.
Langsam aber verstand Ulric von Huysburg die Zusammenhänge: Er hatte es mit Semnonen zu tun, die hier die Zeiten überdauert hatten. Vetustissimos se nobilissimosque Sueborum Semnones memorant – »Als die ältesten und vornehmsten Sueben betrachten sich die Semnonen.« So stand es bei Tacitus in seiner Germania. Seit dem dritten Jahrhundert hatten sie ihre Heimat an Havel und Spree aufgegeben, um in Richtung Oberrhein zu ziehen, und waren schließlich in den Alamannen aufgegangen. Nur wenige Kranke, Schwache, Unentschlossene waren zurückgeblieben – und nach neunhundert Jahren Inzucht waren die meisten von ihnen, wie Ulric schnell feststellte, auch im übertragenen Sinne zurückgeblieben, geistig vor allem. Viele waren missgestaltet und wiesen alle möglichen Gebrechen auf. Die einen hinkten, die anderen hatten verkürzte Arme. Irgendwie erinnerten sie Ulric an Urmenschen. Aber sie waren friedfertig und gastfreundlich. Ihr Gaufürst hieß nicht Imbecill oder Debilian, wie Ulric vermutet hätte, sondern Linus und war ein vergleichsweise verständiger Mann.
»Wir harren hier aus, und die Slawen aus den Dörfern ringsum haben uns auch in Ruhe gelassen«, erzählte er Ulric von Huysburg, nachdem dieser sich als Ritter vorgestellt und von seiner Flucht aus Cöpenick berichtet hatte. »Aber der Lauf des Flusses hat sich in den letzten Jahren verändert, und hier hat sich eine Furt gebildet. Die haben nun Händler aus dem Norden und dem Süden entdeckt und nutzen sie, um den Weg abzukürzen. Das hat auch Jaxa gemerkt, und bald wird er uns vertreiben.«
»Ich werde Albrecht dem Bären von euch berichten«, versprach ihm Ulric von Huysburg, »und er wird sehen, wie er euch schützen kann. Aber sagt, welchen Namen trägt denn eure Siedlung?«
»Keinen«, kam die Antwort von Berbelin, der Frau des Gaufürsten, die zu ihnen getreten war.
Ulric lachte. »Na, dann müssen wir schnell einen finden. Was schlagt ihr denn vor?«
»Semnonennest«, sagte Linus.
»Spreefurt«, schlug seine Frau vor.
Ulric fand beides nicht überzeugend. »Wie wäre es denn mit euren Namen?«
»Linusrode, Linusleben …«
»Berbelinenburg, Berbelinendorf …«
»Nehmt lieber einen Ortsnamen, in dem ihr beide vorkommt: Linus und Berbelin. Linber … Zugegeben, das klingt blöd. Vielleicht eher umgekehrt: Berlin.«
»Gut, Berlin also.«
Sie freuten sich und bewirteten Ulric von Huysburg mit allem, was sie in ihren Vorratskammern hatten. Gern hätten sie ihm auch ein Pferd gegeben, doch sie besaßen keines. So blieb ihm nur zu versuchen, Spandow zu Fuß zu erreichen.
»Der Weg ist nicht weit, aber sehr gefährlich, denn hier am Ufer wimmelt es von giftigen Schlangen.«
Ulric nahm Abschied von seinen liebenswerten Berliner Schrumpfgermanen und machte sich auf den Weg nach Spandow, das er gegen Abend zu erreichen hoffte. Doch das Wetter machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Erst sah es so aus, als würde das Gewitter vorüberziehen, dann brach es mit einer solchen Urgewalt über ihn herein, dass er zu beten begann: Eile, Herr, mir zu helfen! Gott, hilf mir; denn das Wasser geht mir bis an die Seele. Ich versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund ist; ich bin im tiefen Wasser, und die Flut will mich ersäufen. Wer auch immer den 69. Psalm geschrieben hatte, er musste Ähnliches durchgemacht haben. Gewaltige Blitze schlugen links und rechts von Ulric von Huysburg in die Bäume ein und spalteten die Stämme, und ein sintflutartiger Regen setzte ein.
Als alles vorüber war und er es wagen konnte, seinen Weg fortzusetzen, war das Flüsschen, das er nach ein paar Schritten erreichte, die Panke, zu einem reißenden Strom geworden, den er nicht mehr überwinden konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass er mitgerissen wurde und ertrank. So blieb ihm nichts übrig, als erst einmal nach Norden zu laufen und einen nicht unbeträchtlichen Umweg in Kauf zu nehmen.
Irgendwann wusste er nicht mehr, wo er war, und hatte das Gefühl, nur noch im Kreis herumzulaufen. An der Sonne konnte er sich nicht orientieren, denn der Himmel blieb dunkel und verhangen, und das Moos an den Baumstämmen wuchs ringsum, so dass sich eine Wetterseite nicht erkennen ließ. Als es Abend wurde, war er der Verzweiflung nahe. Schön, zu verdursten brauchte er nicht, und zum Essen gab es genügend Beeren und andere wilde Früchte, aber er war kein Urmensch und meinte, dass er sich den Tod holen würde, wenn er völlig durchnässt im Freien übernachten musste.
Auf einer Lichtung angekommen, blieb er stehen und begann zu schnüffeln, wie ein Tier, das Witterung aufnahm. Es hing Rauch in der Luft, und er glaubte, Stimmen zu hören. War er auf seinem Irrweg doch in die Nähe Spandows gelangt? Oder lag vor ihm eine slawische Siedlung? Nun, die Zeiten waren so, dass man im Feindesland immer mit dem Schlimmsten rechnen musste, also ging er nicht offen auf die Leute zu, die da versammelt waren, sondern schlich sich an.
Was er vorfand, war kein Dorf, sondern nur ein Lagerplatz. Am Feuer, das wegen des nassen Holzes nicht richtig brennen wollte, erkannte er etwa zwanzig Männer. Sie sprachen laut miteinander – wen sollten sie auch fürchten? Das war Polabisch, und wenn er es richtig deutete, dann waren es Wilzen, die er vor sich hatte. Sie mussten von Havelberg oder von Demmin gekommen sein. Derjenige, der das große Wort führte, hieß Milegost, wie Ulric von Huysburg bald herausfand, sein Gesprächspartner Cealadrag, ein Dritter Liub.
»Was machen wir mit ihm?«, fragte Cealadrag.
»Wir bringen ihn nach Havelberg und versuchen, ein möglichst hohes Lösegeld für ihn zu bekommen«, antwortete Milegost.
Liub winkte ab. »Seine Leute treffen wir doch nicht in Havelberg, die sitzen doch in Italien oder weiß ich wo.«
»Unsinn!«, rief Milegost. »Ahmad at-Tawil ist ein berühmter Mann, und für den wird ihnen kein Weg zu weit sein.«
Jetzt erst bemerkte Ulric von Huysburg, dass am Rande des Lagers ein Mann lag und von einem Wilzen bewacht wurde, obwohl man ihn offensichtlich gefesselt hatte. Araber waren in der Nordmark sicherlich selten, aber Ulric erinnerte sich daran, einen Reisebericht gelesen zu haben, den der arabische Gesandte Ibrahim ibn Jakub um 973 geschrieben hatte. Einzelne Passagen hatte er sogar noch im Kopf:
Im Allgemeinen sind die Slawen unverzagt und streitlustig; und wenn sie nicht untereinander uneins wären, infolge der mannigfaltigen Verzweigung ihrer Stämme und Zersplitterungen ihrer Geschlechter, so würde sich kein Volk auf Erden mit ihnen messen können. Die von ihnen