»Ihr Schutzanzug ist kontaminiert«, fuhr er etwas ruhiger fort. »Wenn Sie ihn nicht augenblicklich ablegen, werden Sie es auch gleich sein, und das würde Ihren Tod bedeuten.«
Nach wie vor starrte sie ihn durch das Schutzglas an und rührte sich nicht.
»Wollen Sie sterben?«
Sie schüttelte erneut den Kopf.
»Dann kommen Sie da raus!«
Zachary vernahm das Zischen, als der Schutzanzug den Luftdruck entweichen ließ, der im Innern geherrscht hatte. Jennifer richtete ihren Oberkörper auf. Zachary nahm ihr den Helm ab, half ihr aus dem Anzug und warf ihn so weit wie möglich weg. Dann entdeckte er an ihrer Schulter einen dunkelgrauen Fleck.
Sie ist bereits kontaminiert! Sie darf das Labor nicht mehr verlassen!
Jennifer saß nach wie vor auf dem Boden, mitten in der Lache der Sprühflüssigkeit. Kurzerhand kniete er hinter sie, packte ihren Kopf mit beiden Händen und drehte ihn mit einem Ruck nach links. Er konnte das Knacken hören, als ihr Genick brach. Leblos sank Jennifers Körper zur Seite auf den nassen Boden.
Dann rannte er zum nächsten Materialraum und besorgte sich einen großen Schutzbehälter. Er hatte zwar keine Ahnung, ob das Material den Partikeln widerstehen würde, aber fürs Erste sollte es reichen.
Als er in die Schleuse zurückkehrte, hob er die Leiche in den Behälter und achtete darauf, ihre Schulter nicht zu berühren. Nachdem er auch ihren Schutzanzug darin verstaut hatte, verschloss er den Behälter mit dem Deckel und rollte ihn aus der Schleuse. Als er die restlichen Schleusen und Schutzzonen hinter sich gelassen hatte, bestieg er einen Aufzug und wählte das Verladedeck. Dort angekommen, schob er den Behälter zu einem der beiden Robo-Transporter, öffnete das Verladeschott und beförderte ihn hinein. Dann entledigte er sich seines eigenen Schutzanzugs, warf ihn ebenfalls in den Transporter und verschloss das Fahrzeug. Anschließend setzte er sich an das erstbeste Terminal und atmete einmal tief durch. Er loggte sich ein, holte Jennifers Personalakte auf das Display und übertrug ihre Wohnadresse als Empfänger in die Steuerung des Robo-Transporters. Er aktivierte den Transportauftrag, erhob sich und verließ das Verladedeck mit dem Aufzug. Der Transporter würde in der kommenden Nacht seine Reise antreten.
Als er oben ankam, wurde er von etwa zwei Dutzend uniformierten und schwerbewaffneten Sicherheitsleuten empfangen.
»Hände über den Kopf und auf die Knie!«, schrie der Anführer.
Schützend hielt er die Hände vor sich. »Halt! Stopp! Das ist ein Missverständnis!«, rief er abwehrend. »Ich bin der Niederlassungsleiter.«
»Runter, habe ich gesagt!«
Langsam ließ sich Zachary auf die Knie und hob die Hände über den Kopf. Sofort kam einer der Bewaffneten und legte ihm elektronische Handfesseln an. Dann durchsuchte er ihn, holte seinen Ausweis hervor und gab ihn dem Anführer.
»Zachary Ross«, las der Mann vom Ausweis. »Sie scheinen tatsächlich der hiesige Leiter zu sein. Wir werden das aber noch überprüfen. Was machen Sie hier um diese Zeit?«
»Ich musste noch ein wichtiges Experiment durchführen«, stammelte Zachary. »Aber es ist etwas schiefgegangen. Ich wollte gleich den Sicherheitsdienst rufen, doch Sie sind mir zuvorgekommen.«
»Wir haben einen Alarm der höchsten Stufe empfangen. Das heißt für uns, es ist etwas sehr Gefährliches passiert. Wir werden Sie vorübergehend in Gewahrsam nehmen, bis die Sache geklärt ist. Wir wollen sichergehen, dass Sie nichts Kriminelles tun wollten. Los, stehen Sie auf und kommen Sie mit!«
»Das können Sie mit mir nicht machen!«, protestierte Zachary.
»Und ob wir das können. Das ist schließlich unser Job.«
Zachary erhob sich und überlegte, wie er aus dieser Situation entkommen konnte. Er war überzeugt, dass sie ihm nichts tun durften, schließlich war ein hoher Mitarbeiter des Konzerns.
Als sie das Gebäude verließen und auf den Security-Gleiter zugingen, riss er sich los und rannte auf das Seitengebäude zu. Dahinter befand sich einer von mehreren Parkplätzen, auf denen stets Bodengleiter herumstanden. Er wusste, dass viele Mitarbeiter ihre Fahrzeuge nicht absperrten, da es hier praktisch keine Diebstähle gab.
Die Hoffnung, einen dieser Gleiter zu erreichen, verpuffte in einem Strahlenschuss, der Zachary mitten in den Rücken traf und ihn von den Füßen holte.
Die Apokalypse wird sich erfüllen, waren seine letzten Gedanken.
2.
Kim stand am Rande einer Felsplatte am Havasupai Point und blickte in den Abgrund. Das Kap ragte nach Norden. Beide Seiten waren steil abfallend. Der westliche Ausläufer des Grand Canyons tat sich auf wie der gigantische Rachen eines riesigen Fantasiewesens. Wie Ringe in einem Baumstamm zogen sich die Streifen der verschiedenen Gesteinsschichten dahin. In der Mitte der Schlucht ragte ein Kegel empor, ganz oben in einer leicht abgeflachten Spitze endend. Rötliche, grüne, gelbe, schwarze und braune Schichten von Schiefer-, Granit, Kalk- und Sandstein wechselten sich in einer Regelmäßigkeit ab, als wäre dieses gesamte Gebilde künstlich erschaffen worden. Je nach Einfall des Sonnenlichts änderten sich die Farben von einer Sekunde zur anderen. In den obersten Bereichen der fast senkrechten Hänge wuchsen Nadelbäume und erweckten den Eindruck, als könnte man sie pflücken wie Blumen auf einer Wiese.
Im Vergleich zu den immensen Dimensionen kam sich Kim vor wie ein Insekt. Wohin sie ihren Blick auch richtete, der Canyon schien kein Ende zu nehmen. Sie stellte sich ein riesiges Korallenriff beim Tauchgang vor oder eine Kathedrale mit einer raumfüllenden Orgel. Nur war dies hier um ein Vielfaches größer. Ein Blick nach unten vermittelte ihr den Eindruck, als hätten die Götter vor Urzeiten riesige Pflüge durch das Land getrieben, die in dem tiefen Graben ein winziges Rinnsal von schmutzigem Wasser hinterlassen hatten. In Wirklichkeit war dieses vermeintliche Bächlein ein breiter Fluss, dessen Oberfläche im Sonnenlicht grünlich schimmerte.
Kim zog es oft hierher. Es war ein Ort, an dem keine Touristen vorbeikamen und an dem auch keine Wanderwege existierten. Hier konnte sie mit der Natur eins sein, ihren Geist erneuern, ihre Seele reinigen und den Zauber ihrer Vorfahren spüren.
Kim hieß mit vollem Namen Kimama Thomas. Ihre Mutter war ein direkter Nachfahre der Shoshonen, die einst in dieser Gegend gelebt hatten. Kimama bedeutete in der Shoshonensprache Schmetterling. Ihre Mutter hatte versucht, einen Teil der Shoshonenkultur aufrechtzuerhalten und Kim damit vertraut zu machen. Doch hatte das junge Mädchen damals andere Interessen gezeigt. Es war fasziniert gewesen von neusten technischen Errungenschaften, digitalen Medien, Fastfood und von der aktuellen Mode.
Doch als ihre Eltern auf einer Reise bei einem Hurrikan ums Leben kamen, hatte Kim gespürt, dass ihr etwas genommen worden war, was niemals ersetzt werden konnte. Und sie hatte gespürt, dass das Unwissen über die Dinge, die ihre Mutter ihr immer wieder zu vermitteln versucht hatte, eine große Lücke hinterließ.
Die Trauer über den Verlust war irgendwann vorbei gewesen. Aber die Gedanken um die Versäumnisse blieben und verursachten ein nagendes Gefühl. Mitten in ihrer Ausbildung zur Analytikerin digitaler Kommunikationstechnologien erinnerte sie sich an die weisen Worte der Mutter: Bring zu Ende, was du anfängst, bevor du dich Neuem widmest. Also begann sie nach ihrem Studium, sich über ihre Vorfahren zu erkunden.
Es war nicht einfach gewesen, an umfassende Informationen zu gelangen, da sich nur noch wenige Menschen für die damaligen Ureinwohner interessierten. Dank ihrer Geduld und Ausdauer fand sie heraus, dass die Shoshonen die Region des Großen Beckens bewohnt hatten, das später die Staaten Colorado, Idaho, Nevada, Utah und Wyoming bildete. Ihre ursprüngliche Sprache war Uto-Aztekisch. Sie bewohnten einfache Tipis. Zusammen mit den benachbarten Stämmen, den Bannock und den Paiute, wurden sie oft auch als Schlangen-Volk bezeichnet. Die bedeutendste Untergruppe stellten die Komantschen dar. Sie waren verwandt mit den Bannock, den Gosiute, den Paiute und den Ute, mit denen der Stamm diese Region teilte. Außerdem hatte es zwischen allen Stämmen immer Vermischungen